Herbert Weichmann: Vom „Übergangskandidaten“ zu Hamburgs Bürgermeister
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Anfang 1966 ereignet sich in der vornehm zurückhaltenden Hansestadt Hamburg Unerhörtes: Ein vermeintlicher Übergangskandidat schickt sich an, erster Bürgermeister zu bleiben und präsentiert sich dem Wahlvolk als Poet: „Wenn die Leute jammern, klagen, dass uns noch so manches fehlt, muss ich was dagegen sagen: Das Geschaff’ne ist’s, das zählt. Und drum rat ich jedermann, schaut Euch Hamburg heute an.“ Die Verse, vorgetragen vom Verfasser höchstselbst, sind verewigt auf einer Schallplatte, die die Hamburger SPD als Wahlkampf-Gag veröffentlicht hat. Darauf erklärt der Star des Ohnesorg-Theaters, Henry Vahl, seiner fiktiven Nichte aus Cloppenburg, was der Bürgermeister versprochen hat: den Ausbau des Hafens und des Flughafens, die Erweiterung der U-Bahn und den Bau des Elbtunnels. Mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren wird die Schallplatte zum Hit.
Am 27. März 1966 gewinnt die SPD die Bürgerschaftswahl mit 59 Prozent und der „Übergangskandidat“ wird im Amt bestätigt: Herbert Weichmann. Der ist zum Zeitpunkt der Wahl bereits 70 Jahre alt, aber das schadet ihm ebenso wenig wie die Tatsache, dass er jahrelang das wenig prestigeträchtige Amt des Finanzsenators inne gehabt hat. Auch die Vertuschung eines Justizskandals, den das „Hamburger Abendblatt“ kurz vor der Wahl publik gemacht hat – 1964 war in einem Hamburger Gefängnis ein Mann zu Tode geprügelt worden – bringt Herbert Weichmann nicht in Bedrängnis. Hamburg entscheidet sich für kompetente Seriosität, und die verkörpert niemand so sehr wie der gelernte Hanseat Herbert Weichmann.
Im Soldatenrat und in der sozialistischen Studentengruppe
Herbert Weichmann entstammt einer alteingesessenen jüdischen Familie aus Oberschlesien. Geboren wird er am 23. Februar 1896 als erstes Kind eines Arzt-Ehepaars in Landsberg. Schon ein Jahr später zieht die Familie in die Garnisonsstadt Liegnitz. Dort besucht der Knabe eine evangelische Volksschule und im Anschluss das humanistische Gymnasium. Während seiner Schulzeit schließt sich Herbert Weichmann 1911 einer Wandervogel-Gruppe an. Nach der Abiturprüfung, die er im März 1914 ablegt, geht Weichmann auf Wunsch seines Vaters zum Medizinstudium nach Freiburg im Breisgau. Unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zieht es ihn nach Liegnitz zurück, wo er seinen Dienst als Freiwilliger in einer Sanitätsabteilung antritt. Die Härte des Krieges erlebt er an der Ostfront. Im November 1915 wird Herbert Weichmann verschüttet, aber er überlebt. Nach kurzem Lazarett-Aufenthalt geht er wieder an die Ostfront. Am Ende des Krieges wählen ihn die Kameraden in Litauen in den Soldatenrat.
Eine militärische Laufbahn kommt für Herbert Weichmann nach Jahren an der Front nicht in Frage. Auch der Arztberuf behagt ihm nicht. Im Frühjahr 1919 schreibt er sich an der Friedrich-Wihelms-Universität in Breslau für das Fach Rechtswissenschaften ein und tritt einer sozialistischen Studentengruppe bei. Nach nur einem Semester wechselt Weichmann wegen zunehmender Spannungen um die Zukunft Oberschlesien an die als fortschrittlich geltende Universität Frankfurt am Main. Die nächste Station seiner studentischen Wanderzeit ist im Wintersemester 1918/19 Heidelberg, wo er philosophische Vorlesungen bei Karl Jaspers belegt. Anfang 1920 kehrt Herbert Weichmann nach Breslau zurück. Unter dem Eindruck des Kapp-Putsches wird er Mitglied der SPD.
Journalist statt Jurist
Am 20. März 1921 wird nach den Vorgaben des Versailler Vertrags eine Volksabstimmung über die nationale Zugehörigkeit Oberschlesiens abgehalten. Herbert Weichmann, der sich schon zu Beginn seiner Studienzeit journalistisch betätigt hatte, berichtet für die Frankfurter Zeitung und entdeckt ein Thema, das ihn sein Leben lang begleiten wird: den Minderheitenschutz. Nach seiner Promotion im März 1922 tritt Herbert Weichmann seinen juristischen Referendarsdienst in Breslau an, den er mit der großen Staatsprüfung am Kammergericht in Berlin beendet. Eine Anstellung im Staatsdienst erhält er jedoch nicht, weil Preußen 1925 keine Juristen einstellt. Notgedrungen verlegt sich Herbert Weichmann ganz auf den Journalismus und arbeitet für die „Vossische Zeitung“ zunächst über die Lage in Oberschlesien und ab 1925 von Essen aus über den Kohlebergbau. Als das Auswärtige Amt 1927 einen Chefredakteur für die „Kattowitzer Zeitung“, das Blatt der deutschsprachigen Minderheit im polnischen Teil Oberschlesiens, sucht, fällt die Wahl beinahe zwangsläufig auf Herbert Weichmann.
Im November 1927 kann Herbert Weichmann schließlich doch in den Staatsdienst wechseln. Das „Preußische Staatsministerium“ , also die Landesregierung, braucht einen Referenten für Minderheitenfragen, der sich vor allem um die Rechte der Auslandsdeutschen kümmern soll. In dieser Funktion gewinnt Herbert Weichmann das Vertrauen des Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und bekommt weiterreichende Aufgaben übertragen. 1928 gelingt es Weichmann einen Vertrag über die Hafengemeinschaft zwischen Preußen und der Hansestadt Hamburg auszuhandeln. In diesem Zusammenhang macht er die Bekanntschaft des Altonaer Oberbürgermeisters Max Brauer, die für Weichmann noch bedeutend werden soll.
Sozialdemokrat und Jude
Nach dem so genannten Preußenschlag vom 20. Juli 1932 und der damit verbundenen Absetzung der Regierung Braun, wird Herbert Weichmann kurzzeitig als Gewerbereferent ins Preußische Handelsministerium versetzt. Das Nazi-Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 27 April 1933 beendet die Tätigkeit des Sozialdemokraten und Juden Herbert Weichmann im preußischen Staatsdienst. Im September 1933 flieht Herbert Weichmann gemeinsam mit seiner Frau Elsbeth die er während seiner Studienzeit in Frankfurt kennen gelernt hatte, zunächst in die Tschechoslowakei und im Oktober des Jahres nach Paris. Die Beziehung zu seiner Frau beschreibt Herbert Weichmann einem Biographen gegenüber als „seltene Gemeinschaft des politischen Temperaments“. Dies wird beide durch die Widernisse der Exiljahre tragen. Bis zum Überfall Hitler-Deutschlands auf Frankreich arbeitet Herbert Weichmann wieder als Journalist und schreibt für deutsch-französische Exil-Zeitungen. Politisch beteiligt er sich an der vom kommunistischen Dissidenten Willi Münzenberg initiierten „Union Franco-Allemande“.
Die Exil-Odyssee der Weichmanns führt mit einem Transit-Visum aus Siam über Spanien und Portugal schließlich in die USA. In New York verzehren die Weichmanns das „bittere Brot des Exils“ – immer in Geldnot und gepeinigt von der Ungewissheit über ihre Zukunft in der „Neuen Welt“. Während Elsbeth Weichmann bereits kurz nach der Ankunft in New York City ein Studium der Statistik begonnen hat, entschließt sich Herbert Weichmann erst 1942 zu einer Ausbildung als Buchhalter, nach deren Abschluss er als Wirtschaftsprüfer arbeitet. Die Weichmanns halten lockere Kontakte zu deutschen Exilantenzirkeln und gründen gemeinsam mit Max Brauer die „Association of Free Germans“.
Nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands zögern die Weichmanns, die seit 1943 US-Staatsangehörige sind, ins kriegsversehrte Deutschland zurückzukehren. Aber wie viele Exilant*innen sitzen auch Elsbeth und Herbert Weichmann zwischen den Stühlen. Die Frage lautet: Aufgabe der bescheidenen Existenz in New York City oder Rückkehr in das Land, das Herbert Weichmanns Verwandte in Auschwitz ermordet hat? Im Juli 1947 erhält Herbert Weichmann eine Einladung von Max Brauer, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1946 Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg ist, und fühlt sich verpflichtet zum Wiederaufbau der Stadt beizutragen. Im Benehmen mit der britischen Besatzungsmacht wird Herbert Weichmann am 19. Juni 1948 zum Präsidenten des neu geschaffenen Rechnungsprüfungsamtes. Dieses Amt übt er, immer auf Unabhängigkeit vom Senat bedacht, bis zum Dezember 1957 aus. Dann beruft ihn Max Brauer zum Finanzsenator. Herbert Weichmann wird trotz seiner rigiden Sparpolitik über die Parteigrenzen hinweg geschätzt.
Bundespräsident will er nicht werden
Auch im Senat des Ersten Bürgermeisters Paul Nevermann, der im Januar 1961 auf Max Brauer gefolgt ist, bleibt Weichmann Finanzsenator. Dass er vier Jahre später Nevermanns Nachfolger werden wird, kann er nicht ahnen. Nevermann tritt nach einer Kampagne der Springer-Medien am 8. Juni 1965 zurück, weil seine getrennt von ihm lebende Frau nicht an seiner Seite die Queen begrüßen will. Am 9. Juni 1966 wird Herbert Weichmann als Erster Bürgermeister vereidigt. Das Amt übt er mit intellektueller Finesse und politischem Fingerspitzengefühl aus. So gelingt es ihm, den Hafen, das Hamburger „Heiligtum“, vor Begehrlichkeiten der EWG-Kommission zu bewahren, die eine Abschaffung der Freihäfen zum Ziel hatten.
1970 gewinnt der nunmehr 74-jährige Herbert Weichmann seine zweite Bürgerschaftswahl mit respektablen 55,3 Prozent. Im Jahr zuvor hatte er das Ansinnen vieler Sozialdemokrat*innen abgelehnt, als Nachfolger Heinrich Lübkes für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. Weichmann lehnt ab, weil er – nicht zu Unrecht – bezweifelt, dass die Bundesbürger*innen bereit seien, ein jüdisches Staatsoberhaupt zu akzeptieren. Am 9. Juni 1971 tritt Herbert Weichmann, hochgeehrt und allseitig respektiert, in den Ruhestand. Der „Glücksfall für Deutschland“ – so hat sein Biograph Uwe Bahnsen Herbert Weichmann genannt – stirbt am 9. Oktober 1983 nach einem Schlaganfall. Weichmanns Credo bleibt aktuell: „Freiheit des Individuums bedingt auch das Bewusstsein seiner Pflicht, an das Wohl der Gemeinschaft zu denken, um die Weisheit des Kompromisses zu wissen und die Entscheidung der Mehrheit zu respektieren oder wenigstens zu akzeptieren.“