Geschichte

DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990: „Wir waren im besten Sinne Amateure“

Wolfgang Thierse war einer von 88 SPD-Abgeordneten, die am 18. März 1990 bei der ersten freien Wahl in die Volkskammer der DDR einzogen. Im Interview blickt Thierse zurück auf einen „zwiespältigen Tag“ und spricht über das besonders Demokratie-Verständnis der Ostdeutschen.

von Kai Doering · 18. März 2025
Plakate für die DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990: Wahlkampf war insgesamt für die DDR etwas Neues.

Plakate für die DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990: Wahlkampf war insgesamt für die DDR etwas Neues.

Am 18. März 1990 wurden Sie für die SPD als Abgeordneter in die Volkskammer gewählt. Es war die erste freie Wahl in der DDR. Wie blicken Sie auf diesen Tag zurück?

Der 18. März 1990 war für mich ein zwiespältiger Tag. Zum einen habe ich mich gefreut, nun endlich Parlamentarier werden zu können. Das war wie ein politischer Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Aber zugleich war ich natürlich enttäuscht über das Wahlergebnis der SPD und den Wahlerfolg der CDU. Das tat weh.

Wie die meisten anderen Abgeordneten waren Sie ein völliger Politik-Neuling. Wie war es da, Wahlkampf zu machen?

Wahlkampf war insgesamt für die DDR etwas Neues, weil freie Wahlen etwas wirklich Neues waren. Zuvor war das immer nur Zettelfalten, wie das hieß. Und auch für mich war das natürlich alles etwas Neues. Wir Kandidaten waren in jeder Hinsicht Lehrlinge oder Lernende, um es etwas netter zu sagen. An eine Wahlkampfveranstaltung erinnere ich mich besonders gerne. Sie fand im „Filmtheater Colosseum“ in Berlin-Prenzlauer Berg statt. Das Kino war voll und auf dem Podium saßen Regine Hildebrandt, die spätere Brandenburger Ministerin, Tino Schwierzina, der spätere letzte Oberbürgermeister von Ostberlin, ich und in der Mitte Hans-Jochen Vogel. Er notierte sich nicht die Fragen der Fragenden, sondern deren Namen, um sie dann in der Antwort direkt anzusprechen. Wir Politik-Neulinge dagegen waren schon genug damit beschäftigt, die Frage kurz zu notieren und dann vielleicht zwei, drei Stichworte für die mögliche Antwort.

Es gab also keinerlei Vorbereitung oder Coachings, wie man es heute machen würde?

Nein, dafür war gar keine Zeit. Dafür ging alles viel zu schnell. Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich Ende Februar als Kandidat für die Volkskammer aufgestellt worden, also etwa drei Wochen vor der Wahl. Dann ging sofort der Wahlkampf los. Wir haben „learning by doing“ betrieben, im besten Sinne des Wortes.

Wolfgang
Thierse

Die erste freie Wahl war in den Augen der allermeisten in der DDR ein wichtiges Ereignis, ein wirkliches Fest der Demokratie, endlich, endlich frei wählen können.

Sie waren 46 Jahre alt, als Sie in die Volkskammer eingezogen sind. Das Durchschnittsalter lag sogar nur bei 42 Jahren. Hat sich das bemerkbar gemacht?

Das Alter war gar nicht so entscheidend. Interessant an der Volkskammer und an den Abgeordneten war, dass sie aus ganz verschiedenen Berufen kamen. Es gab natürlich weniger Lehrer und Juristen als im Bundestag, stattdessen aber ganz viele Naturwissenschaftler und Ingenieure. Und sowohl bei der SPD wie bei der CDU gab es eine ganze Reihe Pastoren. Das Parlament war also viel bunter zusammengesetzt, weil viele, die zuvor in der Politik gewesen waren, mit dem Ende des SED-Regimes verbrannt waren. Diejenigen, die neu anfingen, kamen aus bisher politikfremden Berufen. Man sollte auch nicht vergessen, dass alle, die da kandidierten, ein Risiko eingegangen sind. Sie haben einen Sprung ins kalte Wasser gemacht und wussten nicht, wie das Ganze ausgeht. Manche, die nach ihrer Wahl in die Volkskammer später nicht in der Politik weitermachen konnten, haben Schwierigkeiten gehabt, beruflich wieder Fuß zu fassen.

Sie dagegen sind nach der Wiedervereinigung in den Bundestag gekommen, wurden später sogar Bundestagspräsident. Was war dort anders als in der Volkskammer?

Die Unterschiede waren gewaltig. Ein wichtiger kultureller Unterschied, der mir in Erinnerung geblieben ist, war, dass wir uns in der Volkskammer alle vorher nicht kannten, auch innerhalb der SPD-Fraktion nicht. Daraus entstand eine gewisse Unvoreingenommenheit. Wenn jemand aufstand, um in der Fraktionssitzung etwas zu sagen, wusste man noch nicht, welche Meinung er vertreten würde. Und damit ist ein zweiter großer Unterschied verbunden. Es gab keine festgelegte Fraktionsmeinung, zumindest zu Anfang nicht. Die bildete sich erst nach und nach heraus. Dadurch war manches freier und bot mehr Raum zum Ausprobieren. Das unterschied die Arbeit in der Volkskammer fundamental von der im Bundestag, wo mehr oder minder professionelle Politiker sitzen und selbst aus Anfängern relativ schnell professionelle Politiker werden. Wir dagegen waren im besten Sinne des Wortes Amateure, die so schnell wie möglich lernten, aber inhaltlich weniger festgelegt waren.

Das klingt sehr romantisch.

Ja, aber ich möchte nichts romantisieren oder gar verklären. Natürlich war das alles ein großer Aufbruch ins Ungewisse, ins Neue, ins Abenteuerliche. Aber es war etwas, das wir gewollt haben, nämlich die politische Freiheit, die politische Demokratie und das erleben zu können und selbst zu praktizieren, das ist ein unvergessliches Erlebnis gewesen. Gleichwohl gehören zur Politik auch Routine und Verlässlichkeit. Denn wenn man alles immer wieder aufs Neue debattieren muss, wird es schnell unübersichtlich und das erschwert, Kompromisse zu finden und Entscheidungen zu treffen.

Die Volkskammer hat, obwohl sie nur ein halbes Jahr im Amt war, mehr als 150 Gesetze beschlossen und zahlreiche Beschlüsse gefasst. Welcher war aus Ihrer Sicht der wichtigste?

Wir waren in der Tat ein sehr, sehr fleißiges Parlament. Dieses halbe Jahr Volkskammerzeit ist ein großes Kapitel der deutschen Parlaments- und Demokratiegeschichte. Weil so viele grundlegende Entscheidungen getroffen worden sind, weil wir uns schnell einigen mussten und weil dieses Parlament sehr schnell gelernt hat. Die wichtigen Entscheidungen waren natürlich die großen Beschlüsse zur Wirtschaft, Währungs- und Sozialunion, zum Einigungsvertrag, zur Regelung der Vermögens- und Eigentumsfragen, bis hin zu dem emotional besonders aufregenden Thema, wie wir mit den Stasi-Akten umgehen. Wir Ostdeutschen wollten, dass die Stasi-Akten nicht geschlossen werden, sondern dass sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden nach klar definierten Regeln, die diesen Zugang auch vom Missbrauch schützen. Das war ein ganz wichtiger Punkt. Wir wollten es anders machen als 1945 und eine Diktatur kritisch aufarbeiten.

Die Wahlbeteiligung bei der Volkskammerwahl lag bei mehr als 93 Prozent. Das heißt, dass viele damit auch große Erwartungen verbanden. Sind diese Erwartungen rückblickend enttäuscht worden?

Die erste freie Wahl war in den Augen der allermeisten in der DDR ein wichtiges Ereignis, ein wirkliches Fest der Demokratie, endlich, endlich frei wählen können. Natürlich gab es dabei auch illusionäre Erwartungen, die ja auch durch Helmut Kohl geweckt worden sind und seinen patriarchalen Gestus „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“. Dass ein Gutteil der DDR-Bürger nicht unterscheiden konnte oder wollte zwischen Demokratie einerseits und Wohlstand andererseits, ist einer der Geburtsfehler dieser Zeit. „Ich wähle den Kohl, der hat die Kohle“, war eines der geflügelten Worte damals. Diese Erwartung musste enttäuscht werden. Und sie ist die Enttäuschung von einer, wie ich sie nenne, autoritären Erwartung an „die da oben“, an den Westen. Diese Enttäuschungen haben die ganzen 90er Jahre bestimmt. Und spielen noch heute eine Rolle, was man an den Wahlergebnissen in Ostdeutschland sehen kann.

Wolfgang
Thierse

Viele Ostdeutsche übersehen, dass Demokratie die Einladung ist, selbst mitzumischen, sich selbst für die eigenen Interessen einzutreten und die Verantwortung nicht vollständig an „die da oben“ zu delegieren.

Ostdeutsche sagen in Umfragen regelmäßig, dass sie die Demokratie gut finden, nicht aber, wie sie gelebt wird. Wie bewerten Sie das?

Es gibt bei einem beträchtlichen Teil der Ostdeutschen eine andere Demokratie-Vorstellung. Nämlich eine Vorstellung, wer gewählt ist, der soll gefälligst durchsetzen, was ich will. Es ist ein Wunsch nach einer autoritären Demokratie, könnte man sagen. Ein beträchtlicher Teil der Ostdeutschen laboriert zudem an der Pluralität dieser Gesellschaft. Das führt dann zu Forderungen wie der, die AfD müsse doch an einer Regierung beteiligt werden, weil sie 30 Prozent der Menschen gewählt haben. Dass Demokratie immer die Suche nach Mehrheiten und Kompromissen ist und Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte ebenso dazugehören, wird dabei schnell ausgeblendet. All das kostet natürlich Geduld und manchmal auch Nerven und ist bei vielen Ostdeutschen deshalb nicht so beliebt. Und es gibt noch einen zweiten Punkt, der durchaus etwas mit dem 18. März 1990 zu tun hat.

Welchen?

Viele Ostdeutsche übersehen, dass Demokratie die Einladung ist, selbst mitzumischen, sich selbst für die eigenen Interessen einzutreten und die Verantwortung nicht vollständig an „die da oben“ zu delegieren. Noch immer ist der Organisationsgrad von Parteien und Gewerkschaften in Ostdeutschland sehr gering, weil die Meinung vorherrscht „Die sollen mal machen.“ Und da sie dann natürlich nicht die Wunder vollbringen, die man erwartet, verachtet man sie und ist bereit, AfD oder ähnliches zu wählen.

Der Soziologe Steffen Mau schlägt deshalb vor, mehr Entscheidungen Bürgerräten zu überlassen, um die Menschen zum Mitentscheiden zu bewegen. Halten Sie das für eine sinnvolle Idee?

Ich bin sehr dafür, dass man alle Versuche, alle Experimente unternimmt, Menschen für die Demokratie zu gewinnen, damit sie mitmachen, selbstwirksam werden und demokratische Erfahrungen sammeln. Aber ich bin ein leicht skeptischer Befürworter von Bürgerräten, weil ich sehe, dass die Chancen mitzumischen, die wir doch 1990 bekommen haben, von so vielen gar nicht ergriffen wurde. Wir sind eine Minderheit geblieben. Ich hätte mich gefreut, viele Mitkämpfer zu haben, aber die Zahl ist leider überschaubar geblieben, obwohl es alle Möglichkeiten dafür gegeben hat. In einer Atmosphäre der Demokratiefeindschaft und des Hasses fällt es schwer, Ämter zu übernehmen und sich in der Demokratie und für sie zu engagieren. Man sollte deshalb alles unternehmen, das hilft, dass Menschen aus der Ecke des Schimpfens und Klagens und der Verärgerung herauskommen. Ich bin aber nicht sicher, wie erfolgreich es sein kann.

Wolfgang Thierse

wurde am 18. März 1990 in die Volkskammer der DDR gewählt. Am 21. August wurde er Vorsitzender der SPD-Fraktion. Ab dem 3. Oktober 1990 und bis zur Bundestagswahl 2013 gehörte Thierse dem Bundestag an. von 1998 bis 2005 war er Bundestagspräsident.

Wolfgang Thierse
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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