Eberhard Brecht: Aus der Volkskammer in den Bundestag
Eigentlich war Eberhard Brecht schon raus. Als am Abend der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 fast alle Stimmen ausgezählt waren, schien es, als hätte der damals 40-Jährige den Einzug verpasst. „Erst am 19. März um sechs Uhr morgens stand fest, dass ich gewählt worden bin“, erzählt Brecht heute.
Mit dem 18. März begann Brechts zweites Leben
Vor 30 Jahren begann für den promovierten Physiker aus Quedlinburg in Sachsen-Anhalt sein zweites Berufsleben, das eines Politiker. Es Zufall zu nennen, wäre untertrieben, aber dass dieses Leben geplant gewesen sei, wäre zu viel gesagt. „Ich bin damals sehr plötzlich Politiker geworden ohne jegliche Vorerfahrung, wie Politik eigentlich funktioniert, auch wenn ich seit meiner Kindheit zeitgeschichtlich interessiert bin.“
Dass es dazu kam, lag an den Ereignissen in der DDR im Herbst 1989. Am 9. Oktober demonstrierten Zehntausende in Leipzig gegen das SED-Regime. Am 9. November fiel die Mauer. Eberhard Brecht war mittendrin. „Die Volkskammerwahl am 18. März war die konsequente Fortführung und das Ergebnis der Friedlichen Revolution. Wir wollten die Geschicke unseres Landes endlich selbst in die Hand nehmen“, sagt er.
Unterstützung aus dem Westen
Brecht selbst wurde im September 1989 Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ in Quedlinburg. Am 1. Dezember 1989 trat er in die SPD ein, die damals noch SDP hieß. Die Volkskammerwahl war ursprünglich für den 6. Mai geplant, doch da sich die politische und wirtschaftliche Situation in der DDR schnell verschlechterte, wurde sie auf den 18. März vorgezogen. „Über die SPD-Kandidaturen entschied kein Parteitag, sondern eine Wahlkommission, die alle Interessenten befragte und eine Liste erstellte“, erinnert sich Eberhard Brecht.
Der Wahlkampf sei ziemlich improvisiert gewesen. Bei der Büroausstattung gab es Unterstützung aus Celle und Hameln. Und auch die Bundes-SPD half: Zu Brecht nach Quedlinburg kamen als Redner etwa der frühere Bundesfinanzminister Hans Matthöfer und der langjährige außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Karsten D. Voigt.
Beide sprachen allerdings vor weitgehend leeren Sälen. Waren Ende 1989 der SPD die Sympathien der DDR-Bürger*innen noch zugeflogen – selbst eine absolute Mehrheit bei der Volkskammerwahl schien möglich – lag sie in Umfragen inzwischen weit abgeschlagen hinter der CDU.
Gestern bejubelt, nun Hassobjekt
Mit dem rapiden Zerfall der Autorität des ostdeutschen Staates wuchs auch der Wunsch nach einer schnellen Einführung der D-Mark und der Wiedervereinigung. „Bei einer Wahlkampfkundgebung im Januar 1990 habe ich damals vor einem vollständigen 1:1-Umtausch von Ost- in D-Mark gewarnt, weil es in der DDR zu einer Massenarbeitslosigkeit führen würde, aber das wollte niemand hören“, erzählt Eberhard Brecht. Seine Rede ging in einem gellenden Pfeifkonzert unter. „Während der Friedlichen Revolution wurde ich bejubelt, jetzt war ich plötzlich ein Hassobjekt“, fasst er die Stimmung damals zusammen.
„Die westdeutsche SPD hat einen großen strategischen Fehler gemacht, dass sie sich nicht klar zur deutschen Einheit bekannt hat“, sagt Brecht im Rückblick. „Wenn Oskar Lafontaine damals nur einmal gesagt hätte ‚Wir freuen uns auf euch Ostdeutsche‘, wäre vieles anders gekommen“, ist er überzeugt.
So landeten die ostdeutschen Sozialdemokrat*innen bei der Volkskammerwahl mit nur 21,9 Prozent der Stimmen deutlich hinter der „Allianz für Deutschland“, die von der CDU angeführt wurde und 48 Prozent erhielt. Das Ergebnis sei eine „gigantische Enttäuschung“ gewesen, erinnert sich Eberhard Brecht – auch für ihn persönlich. „Ich hatte vorher überhaupt nicht damit gerechnet, dass mein Listenplatz in irgendeiner Form wackeln könnte.“
Rund um die Uhr Gesetze produziert
Umso größer die Erleichterung, als am nächsten Morgen feststand, dass er doch im Parlament dabei ist. „Besonders in den ersten Sitzungen herrschte eine riesen Aufbruchsstimmung“, erinnert sich Brecht. Das Durchschnittsalter der 400 Abgeordneten betrug 42 Jahre, 86 Prozent hatten ein Hochschulstudium absolviert, mehr als ein Drittel war promoviert, etwa die Hälfte der Abgeordneten hatte zuvor im naturwissenschaftlich-technischen Bereich gearbeitet. „Es war aber auch eine Reihe Arbeitnehmer dabei“, erinnert Brecht – etwas, das ihm heute im Bundestag fehle.
„Wir waren getragen von einer Welle der Sympathie aus der Bevölkerung“, erzählt Brecht. Entsprechend hoch seien auch die Erwartungen gewesen. Das Arbeitspensum sei groß gewesen. „Wir haben fast rund um die Uhr Gesetze produziert.“ Vieles sei innerhalb weniger Tage beschlossen worden, auch samstags habe die Volkskammer häufig getagt. Am Sonntag standen dann Bürger*innen zu Sprechstunden in Quedlinburg an. „Ich habe wenig geschlafen in der Zeit“, sagt Brecht. Einmal sei ein Mitglied der SPD-Fraktion vor Übermüdung im Plenum eingeschlafen, was auch im Fernsehen übertragen wurde. „Der hatte dann richtig große Probleme im Wahlkreis und sollte nicht wieder aufgestellt werden.“
Dabei habe die Volkskammer – die zehnte und die erste frei gewählte – eigentlich vor allem zwei Aufgaben gehabt: die Vorbereitung der Einheit und eine vernünftige Gesetzgebung für die Übergangszeit. Die Idee, eine neue Verfassung für die DDR auszuarbeiten, sei schnell am Zeitdruck zerbrochen. „Mit der Volkskammerwahl war das Ende dieses Parlaments schon vorbestimmt“, sagt Brecht.
Peter Struck als „Patenonkel“
Als sich die Volkskammer mit dem Ende der DDR auflöste, stand für ihn direkt der nächste Wahlkampf an: Am 2. Dezember 1990 fand die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl statt. „Da war alles deutlich professioneller“, erinnert sich Brecht. Ausgestattet mit einem guten Listenplatz brauchte Eberhard Brecht diesmal nicht zu zittern und zog souverän in den Bundestag ein.
„Wir ostdeutschen Abgeordneten wurden in der Fraktion unwahrscheinlich herzlich aufgenommen“, erinnert er sich. Hans-Jochen Vogel empfahl damals seiner Fraktion, dass den Abgeordneten aus dem Osten ein erfahrener „Pate“ aus dem Westen zugeordnet wird. In Brechts Fall war es der spätere Fraktionsvorsitzende Peter Struck aus Niedersachsen. „Auch die Führungspositionen in der Fraktion wurden quotiert, was für den Anfang nicht schlecht war.“ Brecht wurde stellvertretender außenpolitischer Sprecher und blieb es elf Jahre lang.
Als Nachrücker plötzlich wieder dabei
Bis 2001 war er Abgeordneter, zog noch mit dem Bundestag von Bonn nach Berlin um. Danach wurde er Oberbürgermeister von Quedlinburg und blieb es bis 2015. Zwei Jahre später kandidierte er zwar nochmal für den Bundestag, ging allerdings nicht davon aus, gewählt zu werden. Als sich der Magdeburger Abgeordnete Burkhard Lischka Ende vergangenen Jahres aus dem Bundestag zurückzog, rückte Brecht nach – unerwartet, aber motiviert.
„Man merkt die fortschreitende Digitalisierung“, nennt der 70-Jährige einen der Unterschiede zu seiner ersten Zeit im Bundestag. Vieles habe sich seitdem professionalisiert. Allerdings würde das Arbeiten dadurch erschwert, dass einige Fraktionen ihre Anträge inzwischen sehr kurzfristig einreichten. „Das macht eine gründliche Befassung schwierig“, sagt Brecht. „Alles ist kurzatmiger geworden.“ Und auch die Anwesenheit der AfD mache sich deutlich bemerkbar.
Doch auch wenn die Rückkehr in den Bundestag etwas holprig war: Angekommen ist Eberhard Brecht mittlerweile. Und ob er bei der kommenden Bundestagswahl nicht doch noch einmal antritt, will er zumindest nicht ausschließen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.