Kultur

Demokratie stärken: Soziologe fordert mehr Orte für Begegnungen

Der Alltag vieler Menschen in Deutschland wird immer individualisierter. Das hat negative Auswirkungen auf die Demokratie, meint der Soziologe Rainald Manthe. In seinem neuen Buch beschreibt er, warum es mehr Orte braucht, an denen sich Leute zufällig begegnen können.

von Jonas Jordan · 23. September 2024
Zufällige Begegnungen mit Menschen, wie hier in der Münchner Innenstadt, können die Demokratie stärken.

Zufällige Begegnungen mit Menschen, wie hier in der Münchner Innenstadt, können die Demokratie stärken.

Welche zufällige Begegnung ist Ihnen zuletzt im Gedächtnis geblieben?

Ich wohne in Berlin-Tempelhof. Da sitzt am S-Bahnhof oft derselbe Obdachlose. Wenn er gute Laune hat, zitiert er Mao. Das durchbricht die Erwartung, die man an Obdachlose hat. Erstens ist er sehr kommunikativ und zweitens hat er anscheinend mal Mao gelesen. Es ist eine Begegnung, die ganz am Rande stattfindet auf einem Weg, den ich sowieso gehe.

Reicht das schon aus, um als Begegnung zu zählen oder ist dafür eine Form der Interaktion notwendig?

In der Soziologie ist es eine Interaktion, wenn man in gegenseitige Wahrnehmungsreichweite kommt, egal wie klein oder groß sie ist. Diese flüchtigen Begegnungen sind wichtiger für die Demokratie, als wir denken. Nicht die einzelne, aber die Masse macht es. Sie trägt dazu bei, dass wir unser Gemeinwesen erleben.

Rainald
Manthe

Damit wir einander vertrauen, ist es notwendig, dass wir den Menschen, mit denen wir eine Gesellschaft teilen, immer mal flüchtig begegnen.

Inwieweit stärkt es die Demokratie, häufig unterschiedlichen Menschen zu begegnen?

Demokratie lebt von Vertrauen. Menschen in Demokratien müssen dem Staat, den Institutionen und einander vertrauen, weil Demokratien nicht so starke Sanktionsmöglichkeiten haben wie Diktaturen. Man kann zu schnelles Fahren mit einem Strafzettel sanktionieren und Mord mit Gefängnis, aber es gibt keine engmaschigen Verhaltenskontrollen. Wir vertrauen darauf, dass die meisten Menschen sich an Regeln halten. 

Wir sehen in großen Studien, dass dieses Vertrauen in den letzten Jahren ins Wackeln geraten ist, vor allem das Vertrauen in Institutionen, aber auch untereinander. Wenn wir einander nicht vertrauen, geraten allgemein gültige Regeln ins Wanken. Damit wir einander vertrauen, ist es notwendig, dass wir den Menschen, mit denen wir eine Gesellschaft teilen, immer mal flüchtig begegnen. 

Was sind die Gründe dafür, dass Begegnungen seltener geworden sind?

Unsere Begegnungen haben sich verändert in den letzten Jahrzehnten. Das hat drei große Treiber. Erstens sind die Deutschen individualistischer geworden. Wir suchen uns selbst aus, mit wem wir unsere Freizeit verbringen, wo wir arbeiten, wer unsere Freundinnen und Freunde sind. Das ist nicht mehr so sehr durch Herkunft determiniert.

Der zweite Treiber ist, dass seit den 90er-Jahren öffentliche Infrastrukturen abgebaut wurden. Öffentliche Schwimmbäder wurden oft durch teure Erlebnisbäder ersetzt, in die man aber als vierköpfige Familie nicht unter 100 Euro reinkommt, während sich im Freibad die gesamte Gesellschaft im Stadtviertel getroffen hat. 

Jugendclubs wurden geschlossen oder ihre Öffnungszeiten gekürzt, was oft die Kinder weniger betuchter Eltern trifft. Die Pflege öffentlicher Plätze und Parks wurde vernachlässigt. Dadurch wurden diese Orte weniger ansprechend und werden nur noch von Menschen genutzt, die sich nichts anderes leisten können. 

Der dritte Treiber ist, dass sich unsere Wohnsituation immer weiter segregiert. Wohlhabende Menschen mit vielen Bildungsabschlüssen ziehen eher nach Berlin-Prenzlauer Berg oder in den teuren Vorort, während arme Menschen eher in den Großwohnsiedlungen der 60er- und 70er-Jahre leben. Beide Gruppen haben wenig Berührungspunkte miteinander. Das hat Auswirkungen auf die Schule, wo die Kinder einander nicht mehr begegnen, oder den Elternabend, wo die Eltern nicht mehr aushandeln müssen, wohin die Klassenfahrt geht. Für diejenigen, die keine hohen Bildungsabschlüsse haben, fehlen Vorbilder, um zu wissen, wie man Medizinerin oder Anwalt werden kann. 

Zusätzlich hat die Corona-Pandemie durch ihren Digitalisierungsschub einiges verändert. Sie hat die Menschen ein bisschen lethargischer gemacht. Ein bisschen mehr Netflix und weniger Sportverein.

Braucht es wieder mehr Bereitschaft, Menschen im Alltag begegnen zu wollen?

Ich finde es schwierig, den Menschen eine richtige Mentalität vorzuschreiben. Gute Angebote helfen. Wenn ein Park schön gestaltet ist, sodass man für sich, aber auch mit anderen sein kann, wenn der ÖPNV oft genug fährt, sodass man nicht gequetscht dasteht, sondern auch ein bisschen Raum hat, die Leute zu beobachten, findet Begegnung statt. Wichtig ist es, die Menschen, die den Ort potenziell nutzen, in die Planung und Nutzung miteinzubeziehen.

Das setzt eine gewisse Bereitschaft voraus, sich einzubringen und seine Umgebung gestalten zu wollen. 

Ja, klar. Diese Bereitschaft ist viel breiter vorhanden, als man denkt. Wichtig ist, dass die Hürden nicht zu hoch sind und die Menschen dort gefragt werden, wo sie ein Interesse haben und es um Orte ihres Alltags geht. Wenn man sie direkt fragt: Wie möchtest du diesen Park gestalten? Was ist dir wichtig?, dann haben viele eine Meinung und bringen sich ein. Man muss das nicht mit großen Begriffen wie Demokratiewerkstatt belegen.

Rainald
Manthe

Wir sind gerade in schwierigen Zeiten für die Demokratie. Da kommt es darauf an, dass man auch die Leute erreicht für Demokratie, die man bisher nicht erreicht hat, das sogenannte unsichtbare Drittel. Die erreicht man eher mit Lebensweltfragen, die an ihre Hobbys und Alltagsorte andocken.

Inwieweit können solche Begriffe abschrecken?

Ich habe gar nichts dagegen, sie so zu benennen. Doch wir sind gerade in schwierigen Zeiten für die Demokratie. Da kommt es darauf an, dass man auch die Leute erreicht für Demokratie, die man bisher nicht erreicht hat, das sogenannte unsichtbare Drittel. Die schweigende Mehrheit, wie Dirk Neubauer in Sachsen sie genannt hat, die nicht aufsteht. Die erreicht man eher mit Lebensweltfragen, die an ihre Hobbys und Alltagsorte andocken.

Vieles von dem, was Sie angesprochen haben – Freibäder, ÖPNV, Jugendclubs – sind eine Frage von Investitionen. Braucht es ein Förderprogramm für Begegnungsorte?

Ja und nein. Förderprogramme können helfen, Begegnungsorte zu schaffen. Es gibt ein Programm für Dorfkneipen beispielsweise in Baden-Württemberg. 

Wichtiger sind aber handlungsfähige Kommunen. Städte und Gemeinden brauchen Mittel, ihr Umfeld zu gestalten und auch die freiwilligen Aufgaben wahrzunehmen, wozu Jugendhilfe und Freibäder gehören. 

Es braucht Kommunen, die bestimmen können und nicht an Regeln scheitern, die im Bund oder im Land gemacht werden. Denn mit der Frage, wie handlungsfähig sich Menschen vor Ort erleben, ist die Frage der Zufriedenheit mit der Demokratie verknüpft. Dazu gehört eine ausreichende Finanzierung. 

Inwieweit bedingt das die Bereitschaft der Menschen, Begegnungsorte wie Dorfläden oder Kneipen auch langfristig zu erhalten?

Es braucht kreative Lösungen. Das Förderprogramm in Baden-Württemberg ist so angelegt, dass die Miete der Kneipen getragen wird und diese nur ihre Betriebskosten und ihr Personal erwirtschaften müssen. 

Eine Kneipe könnte auch in einem abgetrennten Bereich eines Supermarkts entstehen. Ich kenne Bildungszentren, die am Wochenende ihre Kneipe für Menschen aus dem Ort öffnen. Oder Dorfläden, bei denen die Infrastruktur von einem Bildungszentrum getragen wird und Ehrenamtliche sich um den Verkauf kümmern. Über solche Modelle muss man nachdenken. 

Die Antwort ist nicht überall gleich. Deshalb Ist die Frage, wie viel Macht Kommunen haben, so wichtig, um unterschiedliche Antworten geben zu können.

Inwieweit müssen auch politische Akteure ihre Kommunikation und ihre Beteiligungsformen verändern?

Die USA machen vor, wie es auch mit viel weniger strukturierter Parteiorganisation gehen kann. Eine Lösung liegt darin, ansprechbar zu sein. Das kann der Stand sein, der einmal im Monat neben der Schule steht, vorm Bahnhof Brötchen verteilt und eben nicht nur im Wahlkampf. Man muss mit Parteimitgliedern diskutieren können.

Welche Rolle spielt bei Begegnungen das gegenseitige Vertrauen?

Demokratie braucht Differenz, Demokratie braucht Konflikte, aber auch Wege der Konfliktaushandlung.  Die allermeisten Menschen sind bereit, sich auseinanderzusetzen, wenn das Format stimmt und sie das Gefühl haben, mein Gegenüber wird mir zuhören. 

Wichtig ist es, Formate zu schaffen, wo die Menschen sich begegnen können und es nicht um die allerkontroversesten Themen geht. Dann finden viele Menschen zusammen. In der Dorfkneipe kann man in der Diskussion herausfinden, dass man sich uneinig ist, aber trotzdem noch ein Bier miteinander trinken. So muss es in der Demokratie sein.

Inwiefern gibt es ein Gefälle zwischen Begegnungsorten im Sommer und im Winter?

Begegnungsorte im Sommer und im Winter sind unterschiedlich. Das gilt für Gastronomie im Freien. Das gilt aber auch für die Dorfjugend, die sich dann nicht mehr an der Bushaltestelle oder an der Tankstelle treffen kann. 

Umso wichtiger sind andere inklusive Begegnungsorte. Für die Jugendlichen wäre es ein Jugendclub. Für die Gastronomie wäre es die Dorfkneipe statt des Biergartens. Es gibt nicht den einen Begegnungsort, der ideal oder perfekt ist. Es gibt ganz viele Orte für ganz viele unterschiedliche Menschen und es ist wichtig, dass man ab und zu einem Ausschnitt der Gesellschaft begegnet und nicht immer allen.

Zur Person:

Rainald Manthe ist Soziologe und Autor. Er war Direktor des Programms „Liberale Demokratie“ beim Think-Tank „Zentrum Liberale Moderne“. Er hat über transnationale Treffen sozialer Bewegungen – die Weltsozialforen – promoviert und schreibt regelmäßig zu Fragen der Demokratieentwicklung. Im transcript Verlag ist sein Buch „Demokratie fehlt Begegnung – über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts“ erschienen.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Di., 24.09.2024 - 12:20

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"Wenn er gute Laune hat, zitiert er Mao"

Ach, den Mao hat er zitiert. Der hat zwar auch 80-100 Millionen Menschen auf dem Gewissen aber hey - er war schließlich ein linker Diktator, der den Kommunismus nur "nicht richtig umgesetzt" hat. Quasi nur ein Schönheitsfehler für den Soziologen und Direktor der Programms "Liberale Demokratie".

"Wir sehen in großen Studien, dass dieses Vertrauen in den letzten Jahren ins Wackeln geraten ist, vor allem das Vertrauen in Institutionen, aber auch untereinander."

Das ist richtig. Spätestens deit Corona ist bei vielen Menschen das Grundvertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren gegangen. Und natürlich hat es auch die Menschen gespalten, Freundschaften wurden zerstört, Familienmitglieder rednen nicht mehr miteinander und haben auch keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr. Ohne eine echte Aufarbeitung wird das auch so bleiben und sich im Gegenteil noch weiter verstärken. Da helfen auch keine "Begegnungsstätten" weiter.

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