75 Jahre Grundgesetz: Ohne Demokrat*innen schafft sich die Demokratie ab
Wir müssen wieder „Mehr Demokratie wagen!”. Willy Brandts Versuch, die Demokratie durch mehr Mitbestimmung zu beleben, braucht es auch 2024, meinen drei Stipendiat*innen der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich von 75 Jahren Grundgesetz.
IMAGO / Wolfgang Maria Weber
Symbolfoto: Protest gegen Rassismus und Rechtsextremismus
Es sind nur wenige Grad über Null, als Salome auf den Marktplatz im thüringischen Kahla tritt. Die 22-jährige Lehramtsstudentin trägt eine Jacke, um beim Stehen nicht zu frieren. Und stehen wird sie heute genug. Mit weniger als 40 anderen Menschen versammelt sie sich an diesem 27. Januar, um gegen Rechtsextremismus in Deutschland zu demonstrieren. Ein Zeichen zu setzen, wie sie sagt.
„Ich bin eigentlich überhaupt kein Demo-Mensch“
„Ich bin eigentlich überhaupt kein Demo-Mensch“, sagt sie, „natürlich interessiere ich mich ein bisschen für Politik, aber aktiv werden – egal ob auf der Straße oder in Parteien – war nie meins.“
Das Gespräch führen wir in ihrer Wohnung. Auf der Straße hat sie Angst. In Kahla ist es normal, dass Menschen ihre rechtsextreme Gesinnung offen ausleben. „Man sieht oft beim Einkaufen Kerle, die schwarze Hoodies mit nationalsozialistischen Symbolen tragen. Meist in Anlehnung an die preußische Reichskriegsflagge mit der Aufschrift Division Thüringen“, erklärt Salome. „Mir ist hier noch nie etwas passiert, aber als ich jetzt auf der Demo war, hatte ich das erste Mal wirklich Angst. Jedes Autogeräusch ließ mich zusammenzucken.“
Auch die härteste Verfassung hält nicht von allein
Trotzdem würde sie erneut auf dem Marktplatz demonstrieren. Anlass war die Recherche des Journalisten-Netzwerks Correctiv. Die habe sie erschüttert, sagt die angehende Geschichtslehrerin: „Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Generation solche Narrative nochmal erleben wird.“
Demokratien bieten allen ihren Bürger*innen Freiheiten – auch ihren Feind*innen. Als Staatsmodell sind sie damit besonders gefährdet, sich selbst zu zersetzen. Eine Verschärfung der Verfassung, etwa durch stärkere Beschränkungen der Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, scheint daher angebracht. Die Gewährung solcher Freiheiten ist aber gerade Herzstück einer Demokratie. Strengere Gesetze sind außerdem kein Garant für Demokratieschutz, denn auch die härteste Verfassung hält nicht von allein. Vielmehr ist sie auf das Engagement der Bürger*innen angewiesen. Die Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erfordert Wachsamkeit, aber vor allem Einsatz. Wir dürfen uns nicht nur auf unsere Verfassung verlassen – auch die Verfassung muss sich auf uns Demokrat*innen verlassen können! Doch was bedeutet das? Wie schützen wir unsere Demokratie vor dem Missbrauch von Freiheiten? Wie bauen wir Vertrauen in demokratische Prozesse auf? Die Zivilgesellschaft – ja wir – müssen handeln. Machen wir uns auf den Weg in eine wehrhaftere Demokratie!
Machen wir uns auf den Weg in eine wehrhaftere Demokratie!
Ein erster Schritt besteht im Ehrenamt. Sich in Vereinen und Gewerkschaften zu beteiligen kann das Vertrauen in die Gemeinschaft und unsere Gesellschaft stärken. Ziviles Engagement lässt Bürger*innen Gestaltungsmöglichkeiten unabhängig von Politik, bietet die Option, sich nach Interessen und Überzeugungen zu vernetzen, und öffnet Wege zur demokratischen Teilhabe. Niedrigschwellig trägt dies zum Gemeinwohl bei, indem es Vorurteile und Ängste abbaut und den sozialen Zusammenhalt fördert.
In einem zweiten Schritt sollten Bürger*innen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Ein Beispiel: Bürger*innenräte könnten eine Schnittstelle zwischen gesellschaftspolitischem Engagement sowie Partei- und Regierungsarbeit bilden. Sie werden repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zusammengestellt. Diskussionen werden moderiert, Expert*innenvorträge gehört und Empfehlungen gemeinsam entwickelt. Das sorgt für Transparenz und Vertrauen. Bürger(rät)*innen würden feststellen: Wir leben unsere Demokratie! Bürger*innenräte bieten einen Ort, um unabhängig von politischer Zugehörigkeit oder gesellschaftlichem Status unser Gemeinwesen mitzugestalten.
Parteien müssen sich wandeln!
Seit jeher nehmen aber Parteien die prominenteste Rolle der demokratischen Willensbildung wahr. Damit sie dieser Rolle weiterhin gerecht werden, müssen sie sich jedoch für einen dritten Schritt wandeln: Zu oft hängt der interne Willensbildungsprozess an einzelnen „Meinungsmachern“. Zu häufig findet die Willensbildung in Hinterzimmern unter Ausschluss der Parteibasis statt. Und zu schwierig ist auch heute noch der Einstieg für weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen. Partei-Engagement ist zurzeit ein Thema für Akademiker*innen. Getragen muss die Demokratie allerdings von allen werden. Können Parteien langfristig kein breites Meinungs- und Bevölkerungsspektrum in sich vereinen, verlieren sie an demokratischer Legitimation und das demokratische System einen wertvollen Ort der Aussprache und Beratung.
„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung […] zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte“, heißt es im Artikel 18 des Grundgesetzes. Stand 2024 gab es vier dieser Artikel-18-Verfahren. Alle scheiterten. Die juristischen Hürden einer Grundrechtsverwirkung sind äußerst hoch. Als letztes Mittel im Kampf gegen Antidemokrat*innen scheint der Artikel 18 GG damit als rechtsstaatliches Instrument machtlos.
Demokratie durch Mitbestimmung beleben
Doch zeigt er, wozu unsere Freiheiten verwendet werden dürfen: für die Demokratie selbst. Die Demokratie schafft sich nicht ab, wenn wir als Demokrat*innen partizipieren, wenn wir, wie Salome, auf die Straße gehen, wenn wir uns organisieren und die Demokratie leben. Und um Salome das Leben leichter zu machen, braucht es mehr Unterstützung für Ehrenämter, mehr Bürger*innenräte und mehr basisorientierte Parteien! Die Freistellung von der Erwerbsarbeit darf es nicht nur für die freiwillige Feuerwehr geben! Bürger*innenräte müssen häufiger zu kontroversen Themen eingesetzt werden und vor allem nicht zu unverbindlichen Empfehlungsgebern verkommen! Schließlich müssen Parteien ihre Basis stärker einbeziehen und der besten Idee statt der Idee des bestvernetzten Mitglieds folgen!
Wir müssen wieder „Mehr Demokratie wagen!”. Brandts Versuch, die Demokratie durch mehr Mitbestimmung zu beleben, braucht es auch 2024.
Zur Reihe:
Der Beitrag ist während einer Demokratiewerkstatt der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden. Diese beschäftigte sich anlässlich des 75. Jubiläums mit dem Grundgesetz. Der vorliegende Beitrag wird im Juni außerdem im Sammelband „Verfassung im Fluss – 75 Jahre Grundgesetz“ erscheinen.
sind Stipendiat*innen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sophie Brücklmeier studiert Europäische Wirtschaftspolitik in Wien und Berlin. Jesko Zagatowski studiert Rechtswissenschaft in Jena. Nathanael Kleinhans studiert Volkswirtschaftslehre in Berlin.
Überschrift
zu ergänzen wäre: Außer wenn es gegen Palästinenser, Russen (Florence Gaub) oder Chinesen geht.
Mein Kommentar wird wohl wieder der Neti zum Opfer fallen, aber auch hier ist das Bergpredigtzitat angebracht.
Mehr Demokratie
Der SPD sollten die alten Weißheiten, daß konzentrierte wirtschaftliche Macht nicht mit richtiger Demokratie kompatibel ist, mal wieder klar werden. Gemeinwohlorientierter Besitz von Wohnungen, Bildungseinrichtungen und Infrastruktur waren und sind die Grundlage eines demokratisch organisierten Wohlfahrtsstaates., aber dank der neoliberalen Ideologie und Praxis kam da viel zu viel unter die Räder. Post, Bahn, Telekom, Versorgungsnetze und gerade jetzt die Krankenhäuser (Gesundheitswesen). Wo Kapitalinteressen an erster Stelle stehen ist für Demokratie und Mitbestimmung kein Platz.
Eine traurige Rolle spielen auch die "Sicherheitsorgane" zusammen mit Kampagnenjournalismus. Rechtsstaatlichkeit muß gewahrt bleiben, auch wenn das einigen Cancelculturern nicht passt.
Oft haben in der Geschichte diejehnigen, die behaupteten die Demokratie retten zu wollen das genaue Gegenteil erreicht.