Geschichte

Kanzler Willy Brandt: Der Modernisierer der Bundesrepublik

Als Willy Brandt am 21. Oktober 1969 zum Bundeskanzler gewählt wurde, ruhten riesige Hoffnungen auf ihm. Sein größtes Versprechen gab er eine Woche später in seiner ersten Regierungserklärung ab.
von Renate Faerber-Husemann · 21. Oktober 2024
Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1969: „Gegen Adenauers 'Keine Experimente' setzt er sein 'Keine Angst vor Experimenten'.“

Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1969: „Gegen Adenauers 'Keine Experimente' setzt er sein 'Keine Angst vor Experimenten'.“

Es war ein Gänsehaut-Moment im Parlament am 28. Oktober 1969: Willy Brandts leidenschaftliche Regierungserklärung mit dem bis heute viel zitierten Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und mit dem Versprechen: „Wir wollen ein Volk von guten Nachbarn sein.“ Der neue Bundeskanzler kündigte an, die bewegende Kraft der kommenden Jahre werde „Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft sein“. Er endete mit dem Satz: „Wir sind nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“

Der neue Kanzler als Hoffnungsträger

Peter Merseburger hat diese außergewöhnliche Rede in seiner  Brandt-Biografie so kommentiert: „Gegen Adenauers 'Keine Experimente' setzt er sein 'Keine Angst vor Experimenten'.“ Und weiter: „In vielem entspricht, was er erklärt, den Erwartungen der jungen Generation, jener Achtundsechziger, die den Staat der Adenauerzeit in toto verwerfen und im neuen Kanzler ihren Hoffnungsträger sehen.“

Die  Koalition mit der FDP hatte es möglich gemacht, dass nun der Emigrant, der aktive Kämpfer gegen die Nazi-Barbarei, als erster SPD-Kanzler seit der Weimarer Republik die politische Verantwortung für die Bundesrepublik trug. Das Regieren war vom ersten Tag an schwierig, denn die knappe Mehrheit schmolz rasch dahin, weil einige konservative FDP-Abgeordnete nicht mit den „Sozis“ regieren wollten und zur CDU wechselten.

Ein Land modernisiert sich

Der vor allem von den jungen Leuten ersehnte  politische Wandel hatte sich sich schon während der Großen Koalition (1966 bis 1969) abgezeichnet. Gustav Heinemann, SPD, war zum Bundespräsidenten gewählt worden. Er und sein Nachfolger Horst Ehmke hatten als Justizminister damit begonnen, das Land zu modernisieren. Das Wahlrecht wurde auf 18 Jahre gesenkt. Das politische Strafrecht wurde entrümpelt. Die anachronistischen Strafvorschriften für Ehebruch und Homosexualität wurden gestrichen. Nichteheliche Kinder wurden den ehelichen gleichgestellt. Das heißt, das Versprechen, mehr Demokratie zu wagen, wurde schon während der Großen Koalition unter Bundeskanzler Georg Kiesinger und seinem Stellvertreter Willy Brandt getestet.

Der Widerstand im Land zeigte sich unter anderem im Erstarken der NPD, die in diesen Jahren in sieben Landtage einzog und bei den Bundestagswahlen 1969 nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.

Willy Brandt, der Sensible, der Verletzbare, hatte viel auszuhalten in diesen Jahren. Es gab unglaubliche Hetzkampagnen gegen den Widerstandskämpfer während der Nazizeit, denn er hielt ja allein durch seine Anwesenheit all den Nazi-Mitläufern den Spiegel vor: Für die jungen Menschen repräsentierte er die Gegenwelt zu den schweigenden Eltern, die angeblich nichts gewusst und nichts getan hatten in den Zeiten des Naziterrors. Sie hatten ihre Kinder alleingelassen mit dem Entsetzen über Auschwitz.

Das Idol der Jugend

Für die politische Jugend wurde Willy Brandt auch wegen seiner Vergangenheit zu einem Idol. Je hemmungsloser die Rechten gegen ihn tobten, je widerwärtiger die „Willy -Brandt-alias Herbert-Frahm“-Kampagnen wurden, je hässlicher seine nichteheliche Geburt politisch ausgeschlachtet wurde,  desto entschiedener rückten die jungen Leute an seine Seite.

Und nicht nur die Jugend! Im Wahlkampf 1972 stellten sich auch Künstler wie Heinrich Böll an die Seite des Kanzlers. Wütend schrieb Böll  nach dem gescheiterten Misstrauensvotum: „Offenbar verletzt der Verletzliche nicht gern, und das macht ihn den sporenklirrenden, gelegentlich die Peitsche schwingenden Herren von der Herrenpartei so verdächtig.“

Die Republik nachhaltig verändert

So groß wie die Erwartungen waren – zwangsläufig – die Enttäuschungen. Peter Merseburger: „Doch hat manche Schwierigkeit der sozialliberalen Regierung ihre Ursachen darin, dass Brandt Hoffnungen weckt, die entweder wegen Geldmangels nicht zu erfüllen sind oder am Nein des Koalitionspartners scheitern werden.“

Dazu kam: Nach den Jahren als Außenminister in der Großen Koalition, nach den Kanzlerjahren in schwierigen Zeiten wirkte Willy Brandt erschöpft, nicht erst seit der Affäre um den Spion im Kanzleramt. Doch das Versprechen in seiner Regierungserklärung vor 50 Jahren: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, hat er eingelöst. Damit hat er die Republik nachhaltig verändert. Viele der damals jungen Sozialdemokraten sind dem Träger des Friedensnobelpreises dafür bis heute dankbar.

Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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1 Kommentar

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Do., 24.10.2024 - 10:46

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Die Wahl von Willy Brandt am 21. Oktober 1969 zum Bundeskanzler sowie die Verleihung des Friedensnobelpreises am 20. Oktober 1971 waren ein hervorragendes Geburtstagsgeschenk für mich.

Es wäre schön, wenn es mal wieder ähnliche positive Ereignisse gäbe statt Kriege, Umweltkatastrophen, Zunahme von Verbrechen und Neonazis.