Was heißt für Sie Gerechtigkeit, Saskia Esken?
Dirk Bleicker; dirkbleicker.de
Was heißt für Sie als SPD-Vorsitzende Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit ist einer der drei Grundwerte der SPD und meine wichtigste Antriebsfeder. Wenn Menschen in Not sind, helfen wir und sind solidarisch, klar. Doch wenn man sie ungerecht behandelt, dann gehen wir auf die Barrikaden. Dabei ist absolute Gerechtigkeit zwar nie erreichbar, aber immer erstrebenswert. Insofern haben wir als SPD den Auftrag, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, wo immer wir das können.
Gerade die Gerechtigkeit von Bildungschancen scheint dabei von besonderer Bedeutung zu sein. Warum ist das so?
In unserer Tradition der Arbeiterbildungsvereine wissen wir: Bildung ist die Grundlage für Emanzipation, also dafür, dass Menschen ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen und gestalten können. Dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, aber auch teilhaben an Gesellschaft und Demokratie. Für mich ist Bildung damit ein Menschenrecht und ihre Gerechtigkeit ist fundamental.
Bildung hängt vor allen Dingen vom Elternhaus ab. Was wäre nötig, um das Bildungssystem gerechter zu machen?
Für die Sozialdemokratie hat das Bildungssystem die Aufgabe, allen Kindern gleiche Bildungschancen zu bieten. Um das zu erreichen, müssten Nachteile ausgeglichen werden. Mit großer Sorge müssen wir aber erkennen, dass dieser Nachteilsausgleich immer weniger gelingt. In Deutschland hängt der Bildungserfolg in wachsendem Maße vom Elternhaus ab – von der Sprache, die dort gesprochen wird, aber vor allem vom Geldbeutel der Eltern. Das liegt daran, dass unser Bildungssystem sehr stark darauf basiert, dass Eltern die Kinder am Nachmittag und am Wochenende unterstützen. Und das hat Folgen: Eltern mit geringem Einkommen, die trotz Vollzeit kaum über die Runden kommen, haben wenig Zeit, die Kinder in der Schule zu unterstützen und gleichzeitig auch kein Geld für Nachhilfe. Nicht nur für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch für mehr Bildungsgerechtigkeit haben Ganztagsschulen deshalb eine hohe Bedeutung.
Was kann das geplante Startchancen-Programm für benachteiligte Kinder und Jugendliche – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – verbessern?
Das Startchancen-Programm der Ampel ist als gemeinsames Programm von Bund und Ländern genau darauf ausgelegt, Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern besonders zu unterstützen. Gemeinsam wollen wir diese Schulen besonders unterstützen – mit Mitteln für Gebäude, Ausstattung und unterstützendes Personal. So sollen die Kinder, die schon mit Nachteilen in die Bildungskarriere starten, individuell gefördert und ganzheitlich unterstützt werden.
Das scheint aber nicht zu reichen. Denn Sie haben vor kurzem ein Sondervermögen für Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro gefordert. Ist das realistisch angesichts der derzeitigen Haushaltssparpläne?
Ich bin jetzt erstmal froh, dass wir das Startchancen-Programm mit einer Milliarde Euro pro Jahr für zehn Jahre finanzieren - also weit über die aktuelle Legislatur im Bund hinaus. Denn auch wenn Bildung in unserer Verfassung als Aufgabe der Länder definiert ist, hat der Bund doch die Aufgabe, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen. Für mich ist die Bildungsgerechtigkeit deshalb eine gesamtstaatliche Aufgabe. und meine Motivation, das sogenannte Kooperationsverbot zu überwinden. Und dafür habe ich die Idee eines gemeinsamen Sondervermögens für Bildung ins Spiel gebracht.
Ein Sondervermögen hat den Vorteil, dass Investitionen und Unterstützungsmaßnahmen über Jahre hinweg finanziert werden können, ohne an Haushaltsjahre oder Legislaturen gebunden zu sein.
Im Bundestagswahlkampf war „Respekt“ das große Thema, das ja auch viel mit Gerechtigkeit und Würde zu tun hat. Ist der SPD die Umsetzung dafür bisher gut gelungen?
Wir haben Hartz IV überwunden und das Bürgergeld eingeführt, weil wir wollten, dass der Sozialstaat Menschen in Not mit mehr Respekt begegnet. Wir haben Unterstützungsleistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag massiv erhöht und den Mindestlohn auf zwölf Euro angehoben und damit Millionen Familieneinkommen wesentlich verbessert. Wir wollen, dass alle Menschen gleichermaßen Respekt erfahren, egal welche Arbeit sie machen, wo sie herkommen oder welchen Lebensentwurf sie für sich gewählt haben. Respekt macht unsere Gesellschaft stark.
Was muss noch umgesetzt werden?
Da gibt es auch weiterhin viel zu tun, z.B. die Kindergrundsicherung als eigenständige Geldleistung, die Kinder abhängig vom Einkommen der Eltern besser unterstützt, aber auch die bessere Anerkennung und Verteilung unbezahlter Familienarbeit. Auch unser Kampf gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit und für gleiche Rechte für Männer und Frauen bleibt auf der Tagesordnung, wenn es um Respekt geht.
Wie stehen Sie zu der 4-Tage-Woche? Was sind Vor-, was Nachteile?
Insgesamt werden in der Gesellschaft – gerade bei den Jüngeren – die Stimmen lauter, dass „die Arbeitszeiten zum Leben passen“ sollen, wie der DGB das formuliert. Gerade in einer Zeit von Fach- und Arbeitskräftemangel sollten wir dem Rechnung tragen. Ich habe die Debatte ja mitangestoßen, aber natürlich ist es Aufgabe der Sozialpartner, sich zu neuen Arbeitszeitmodellen zu verständigen.
Aber die Bedürfnisse wechseln im Laufe eines Erwerbslebens.
Ja, es gibt Zeiten, in denen will und kann ich viel arbeiten, mich mehr engagieren, weil ich etwas erreichen will, sei es für mich oder für die Gesellschaft. Zeiten, in denen ich vielleicht mein Leben ganz auf die Arbeit ausrichte.
Und dann gibt es eben Zeiten, in denen der Fokus ein anderer ist, weil ich kleine Kinder habe oder Eltern pflege oder mich auch außerhalb des Berufs engagieren möchte. Weil unser Arbeitsmarkt alle Kräfte mobilisieren muss, insbesondere die Frauen und die Jüngeren, müssen wir bereit sein, auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen. Für mich ist es auch wichtig, dass die Care-Arbeit in den Familien zwischen den Partnern gerechter verteilt werden kann.
Kritiker solcher Modelle fürchten um die Produktivität und eine Verschärfung des Fachkräftemangels.
Die 4-Tage-Woche ist umfangreich wissenschaftlich beleuchtet worden. Dabei wurde festgestellt, dass Beschäftigte an vier Tagen mindestens so produktiv sind wie an fünf, weil die Arbeitszufriedenheit höher ist. Es gibt einen geringeren Krankenstand und eine geringere Fluktuation. Das sind alles auch Kostenfaktoren für die Unternehmen.
Ich habe in meinem Wahlkreis eine private Reha-Klinik, die schon vor Jahren auf eine Viertagewoche mit 36 Stunden umgestellt hat. Sie fahren damit besser: Die Beschäftigten sind viel zufriedener, weil sie einen Wochentag zur Verfügung haben, um all das zu erledigen, was im Leben sonst noch ansteht. Einige teilzeitarbeitende Frauen konnten durch das Modell sogar ihre Arbeitszeit erhöhen.
Muss eine 4-Tage-Woche zwingend mit einer entsprechenden Reduktion der Arbeitszeit einhergehen?
Die Debatte muss in den jeweiligen Branchen und Unternehmen geführt werden. Ich finde es wichtig, dass flexiblere Modelle gefunden werden, die den Bedürfnissen der Beschäftigten besser entsprechen. Gerade Frauen arbeiten häufig in extremen Mangelberufen wie Erzieherin, Lehrkraft, Pflegekraft. Wenn sie ihre Arbeitszeit reduzieren wollen, haben sie oft nur die Wahl, halbtags oder geringfügig beschäftigt zu sein. Mit ein bisschen mehr Flexibilität könnten diese Frauen einen erheblichen Beitrag zur Bewältigung des Fachkräftemangels leisten. Wenn die 2,5 Millionen teilzeitbeschäftigten Frauen in Deutschland nur eine Stunde pro Woche mehr arbeiten könnten, hätten wir die zusätzliche Arbeitskraft von 70.000 Vollzeitstellen im System. Der Arbeitsmarkt muss auf die Bedürfnisse dieser Frauen eingehen.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.