Soziale Politik

Wie der Fachkräftemangel in Deutschland bekämpft werden kann

Für den Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft spielen Aus- und Weiterbildung die entscheidende Rolle. Aber auch die Arbeitsbedingungen müssen stimmen.
von Vera Rosigkeit · 11. April 2023
„Es ist ein stetiger Wandel, in dem wir uns befinden“, sagt die Betriebsratsvorsitzende Daniela Nowak in der Halle für Werkzeugbau im Volkswagenwerk am Standort Braunschweig.
„Es ist ein stetiger Wandel, in dem wir uns befinden“, sagt die Betriebsratsvorsitzende Daniela Nowak in der Halle für Werkzeugbau im Volkswagenwerk am Standort Braunschweig.

Fachkräftemangel hat mehr als eine Ursache. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) drängen aktuell die „3D des Strukturwandels“ zum Handeln. Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie würden dazu führen, dass in vielen Berufen Kompetenzanforderungen steigen sowie der Bedarf an kontinuierlicher Qualifizierung, heißt es in einem Papier seines Ministeriums.

Weiterbildung werde zum festen Bestandteil des Berufslebens. Dass das bei Betroffenen auch Ängste und Bedenken auslöst und einer guten betrieblichen Organisation bedarf, weiß Daniela Nowak. „Wir reden immer vom lebenslangen Lernen, aber so einfach ist das nicht“, betont die Betriebsratsvorsitzende vom Volkswagenwerk am Standort Braunschweig. Dort lief vor zehn Jahren die Kunststofffertigung aus, und im Gegenzug wurde die Batteriefertigung aufgebaut.

Weiterbildung

ERWERBSTÄTIGE UNTERSTÜTZEN

„Wir sind das erste Werk, das mit der Transformation zur E-Mobilität begonnen hat. Über allem steht die Frage, wie wir an diesem Standort die Arbeitsplätze von rund 8.000 Beschäftigten sichern“, erklärt sie. Für die Belegschaft hieß die Umstellung, dass sie noch mal neue Kompetenzen erwerben muss, denn arbeiten unter Hochvolt-Bedingungen sei anspruchsvoll. „Die Kolleginnen und Kollegen haben sich über viele Jahre an ihren Arbeitsplatz besondere Fertigkeiten angeeignet, die waren richtig gut. Denen zu sagen, sie müssen wieder neu lernen und sich auf eine Prüfung vorbereiten, war nicht ohne.“

Die Angst zur Weiterbildung nehmen

Gemeinsam habe man mit dem Unternehmen das Konzept „Lernen lernen“ eingeführt. Ziel: die Beschäftigten zunächst wieder an Lernprozesse heranzuführen. Diese Wochenseminare sind in der Akademie von Volkswagen jetzt Standard, erst dann gehe es in die Fachseminare. „Zum damaligen Zeitpunkt war die Transformation absolutes Neuland“, betont Nowak. Auch seien die Kolleg*innen mit einem Altersdurchschnitt von mehr als 40 Jahren nicht mehr ganz jung. „Sie müssen sich auf ein ganz anderes Produkt einstellen und jemand, der schon lange dabei und richtig gut in seinem Job ist, möchte nicht unbedingt in einer anderen Abteilung wieder ganz von vorne anfangen.“

Umso wichtiger sei es, dass Gespräche stattfinden, weil „wir die Menschen mitnehmen müssen, ihnen sagen, wofür sie die Qualifizierung machen. Mit den Menschen reden, gucken, was sie brauchen und wenn irgendwie möglich, die Maßnahmen darauf zuzuschneiden, damit lassen sich viele Ängste nehmen“, ist Nowak überzeugt. Auf Betriebsrät*innen und Vorgesetzte komme eine ganze andere Verantwortung zu. Gleichzeitig ist sich die gelernte Werkzeugmechanikerin bewusst, dass sie in einem sehr mitbestimmten Betrieb tätig ist. Es brauche mehr Mitbestimmung, um mehr Sicherheit für die Beschäftigten zu haben. „Wenn wir uns andere Betriebe anschauen, die bauen einen neuen Industriezweig auf und nehmen ihr altes Personal nicht unbedingt mit. Und geben damit ihre Verantwortung ab.“

Ausbildungsgarantie kommt

Dass aus Deutschland eine „Weiterbildungsrepublik“ wird, „weil wir in der Weiterbildung schneller werden müssen“ schwebt Hubertus Heil schon seit längerer Zeit vor. Mit einem ersten Weiterbildungsgesetz soll nun die Förderung Beschäftigter verbessert und für Unternehmen erleichtert werden. Zugleich soll die ebenfalls im Koalitionsvertrag vereinbarte Ausbildungsgarantie umgesetzt werden.

Für Heil ist neben einer zuverlässigen Energieversorgung „die Sicherung von Fachkräften die zentrale Frage, die über unseren Wohlstand im kommenden Jahrzehnt entscheidet“, betonte er schon im November im „vorwärts“. Laut Gesetzentwurf sollen künftig Erwerbstätige, die zur Qualifizierung freigestellt werden, während der Maßnahme von der Bundesagentur für Arbeit ein Qualifizierungsgeld in Höhe des Kurzarbeitergeldes als Lohnersatzleistung erhalten.

Weiteres Gesetz soll folgen

Ebenfalls vorgesehen ist eine Ausbildungsgarantie, die mehrere Maßnahmen umfasst: So sollen ein gefördertes Berufsorientierungspraktikum und ein Mobilitätszuschuss für Heimfahrten von Auszubildenden eingeführt werden. Zudem soll Auszubildenden die Teilnahme an Einstiegsqualifizierungen erleichtert und die außerbetriebliche Berufsausbildung auch für Jugendliche geöffnet werden, die auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen haben.

Auch kann die SPD mit der Ausbildungsgarantie eine zentrale Forderung aus ihrem Zukunftsprogramm umsetzen: Danach sollen Jugendliche und junge Erwachsene künftig einen Rechtsanspruch auf eine außerbetriebliche Ausbildung erhalten, wenn sie auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Ausbildungsplatz finden. Diesem ersten Weiterbildungsgesetz, soll ein weiteres folgen, dass zusätzlich eine Bildungszeit vorsieht. Sie gilt für Beschäftigte, die ihre Fortbildung selbst in die Hand nehmen und mit ihrem Arbeitgeber eine teilweise oder volle Freistellung von der Arbeit vereinbaren. Auch sie sollen ähnlich wie beim Qualifizierungsgeld eine Lohnersatzleistung von der Bundesagentur für Arbeit erhalten.

Pflegekräfte

ARBEITSBEDINGUNGEN VERBESSERN

Mehr als 30 Jahre arbeitet Silvia Habekost beim Krankenhauskonzern Vivantes in Berlin. Den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen hält sie für hausgemacht. Als stellvertretende Leitung in der Anästhesie erstellt sie Dienstpläne für ein Team, von dem zwei Drittel in Teilzeit arbeitet. Grund dafür seien die harten Arbeitsbedingungen, erklärt sie.

Zu hoher Zeitdruck

„Es ist ein toller Beruf, weil es um Menschen geht. Aber wenn man den Patientinnen und Patienten nicht mehr gerecht werden kann, weil man sich nur noch gehetzt fühlt, dann kommt man an Grenzen.“ Und obwohl im Gesundheitsbereich händeringend nach Fachkräften gesucht werde, „fehle es an Wertschätzung für unsere Arbeit, die unter so hohem Zeitdruck geleistet wird“, betont Habekost und fordert eine bedarfsgerechte, kostendeckende Finanzierung. In vielen Bereichen gebe es Fachkräftemangel, doch im Gesundheitsbereich sei er „besonders fatal“.

Zu hoher Zeitdruck, zu wenig Personal und ein Zurückbleiben hinter eigenen fachlichen Ansprüchen führen laut einer Langzeitbefragung der Arbeitnehmerkammer Bremen dazu, dass rund 35 Prozent der Pflegekräfte in Deutschland mehrmals im Jahr einen Berufsausstieg erwägen und nur jede fünfte Pflegekraft davon ausgeht, bis zur Rente im Beruf arbeiten zu können. Knapp 25 Prozent verlassen innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ausbildung ihren Beruf. Zwei Drittel der Pflegekräfte in der Langzeitnotpflege arbeiten in Teilzeit, im Pflegedienst der Krankenhäuser sind es knapp die Hälfte.

Mehr Personal und eine bessere Bezahlung

Um den Teufelskreis aus hoher Arbeitsbelastung, Berufsflucht und Personalnot zu durchbrechen, brauche es eine bedarfsgerechte Personalausstattung und vor allem bei kommerziellen Pflegekonzernen endlich eine angemessene Bezahlung, betont Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig ist. Im aktuellen Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes gehe es deshalb auch um die Sicherung der Reallöhne in Kliniken, Pflegeheimen und anderen kommunalen Einrichtungen.

An den Unikliniken Gießen und Marburg hätten sich zudem viele Beschäftigten neu in ver.di organisiert, um per Tarifvertrag Entlastung zu erreichen – erstmals in einem kommerziell betriebenen Krankenhaus. „Bessere Arbeitsbedingen erleichtern die Personalgewinnung“, weiß Bühler. Das berichten inzwischen auch die Leitungen der Uniklinik Mainz und der Berliner Charité, „wo wir gute Tarifverträge für Entlastung durchgesetzt haben“.

Eine halbe Million Pflegekräfte mehr möglich

Auch auf politischer Ebene bewege sich etwas. „Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Personalbemessung in der Krankenhauspflege auf den Weg gebracht – das ist gut“, meint Bühler. „Für die bedarfsgerechte Personalausstattung kämpfen wir seit mehr als zehn Jahren.“

Ein Erfolg könnte weitreichende Folgen haben: Wie die Studie „Ich pflege wieder, wenn …“ der Arbeitnehmerkammer Bremen ergab, würden mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung stehen, vorausgesetzt die Arbeitsbedingungen würden sich deutlich verbessern. In einem optimistischen Szenario geht man sogar von 660.000 Vollzeitkräften aus. Das wäre umso wichtiger, da in den kommenden zehn bis 20 Jahren rund 500.000 professionell Pflegende in Rente gehen werden, erklärt der Deutsche-Pflegerat unter Berufung auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit.

Frauen

POTENZIALE HEBEN

Es sind nicht nur die Arbeitsbedingungen, die dazu führen, dass jede zweite Frau in Deutschland in Teilzeit arbeitet. Und das, obwohl die Erwerbsbeteiligung von Frauen im europäischen Vergleich die höchste sei, erklärt die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Dagmar Schmidt. „Viele Frauen wollen raus aus der Teilzeit, können dies aber aufgrund mangelnder Kinderbetreuung oder familiärer Verpflichtungen nicht realisieren“, sagt sie.

Mit der Brückenteilzeit habe die SPD bereits dafür gesorgt, dass Frauen oder auch Männer, die nach der Geburt eines Kindes mehr Zeit für ihr Kind haben wollen, in eine Vollzeitbeschäftigung zurückkehren können. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung soll ab 2026 schrittweise umgesetzt werden. Auch plane die SPD einen Anspruch auf Pflegezeit mit Lohnersatzleistung einzuführen.

Fachkräftestrategie kommt

Für den Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber steckt in der hohen Anzahl an Frauen, die in Teilzeit arbeiten, ein großes Potenzial. Man sollte es aber nicht darauf reduzieren, dass Frauen statt vielleicht 25 Stunden zehn Stunden mehr arbeiten, erklärt er.

Für ihn ist die Frage wichtiger, wie die berufliche Entwicklung von Frauen gerade nach der Kinderphase verläuft. „An genau der Stelle verlieren wir zu viele.“ Frauen würden oftmals mit einer besseren Qualifikation als Männer in den Arbeitsmarkt hineingehen. Für ihn steht fest, dass „wir aus dem Beitrag von Frauen in unserem Wirtschaftsleben viel mehr machen können“.

Auch mit der im Oktober beschlossenen Fachkräftestrategie der Bundesregierung ist das Ziel verbunden, künftig mehr Potenziale auszuschöpfen. „Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung“, betont Arbeitsminister Hubertus Heil. „Wir wollen den Erwerbsanteil bei Frauen weiter steigern und mehr qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland den Zugang zu unseren Firmen und Betrieben erleichtern.“ Zur Fachkräftestrategie zählt neben zukunftsfesten Arbeitsschutzregeln und dem Weiterbildungsgesetz auch ein modernisiertes Einwanderungsrecht. Eckpunkte hierfür hat die Regierung im vergangenen November beschlossen.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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