Soziale Politik

Bundesarbeitsminister Heil: „Ich habe noch verdammt viel vor.“

Das Bürgergeld kommt, Hartz IV ist Geschichte. Im Interview sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, was sich dadurch ändert und warum er jetzt nicht die Hände in den Schoß legt.
von Kai Doering · 28. November 2022
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil: Mit dem Bürgergeld bleibt die SPD die Partei der Arbeit.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil: Mit dem Bürgergeld bleibt die SPD die Partei der Arbeit.

Beim ersten Debattencamp der SPD im November 2018 hat die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles angekündigt: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Haben Sie damals geglaubt, dass das vier Jahre später Wirklichkeit wird?

Andrea Nahles hatte mich damals gebeten, gemeinsam mit anderen aus der Partei, ein neues Konzept zu erarbeiten. Daraus ist dann das Sozialstaatskonzept entstanden, das die SPD auf ihrem Parteitag 2019 beschlossen hat. Als wir mit Olaf Scholz die Bundestagswahl gewonnen haben, war klar, dass es nicht bei diesem Beschluss bleibt, sondern dass wir unsere Vorstellungen nun in praktische Politik übersetzen können, um den Alltag der Menschen zu verbessern.

Sie nennen das Bürgergeld „die größte Reform des Sozialstaats seit 20 Jahren“. Was ist für Sie der Kern dieser Reform?

Das sind zwei Dinge: Wir sichern zum einen Menschen, die in existenzielle Not geraten sind, verlässlich ab. Das reicht uns aber nicht. Deshalb wollen wir zum anderen dafür sorgen, dass Menschen aus der Not wieder herauskommen und sie dauerhaft in Arbeit vermittelt werden. Und zwar möglichst unbürokratisch.

Wo ist der Unterschied zu Hartz IV?

Das Bürgergeld verfolgt einen neuen Ansatz. Im bisherigen Hartz-IV-System gibt es die Regel, dass die Jobcenter die Menschen um jeden Preis in Arbeit bringen sollen. Angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, führt das all zu oft dazu, dass einige dann eine Zeit lang in Hilfsjobs arbeiten, aber nicht dauerhaft am Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Mit dem Bürgergeld geben wir ihnen die Chance, dass sie einen Berufsabschluss nachholen können, um dauerhaft Arbeit zu finden. Das leistet auch einen Beitrag zur Arbeits- und Fachkräftesicherung.

Das Bürgergeld soll auch ein neues Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern schaffen, heißt es. Wie drückt sich das aus?

Wenn Menschen in existenzielle Not geraten, wollen wir sie verlässlich absichern. Deshalb bauen wir Bürokratie ab. Vor allen Dingen geht es aber darum, sie aus der Bedürftigkeit herauszuholen und dafür zu sorgen, dass sich Leistung und Anstrengung lohnen. Deshalb erhöhen wir die Zuverdienstmöglichkeiten, setzen auf Qualifizierung und bauen den sozialen Arbeitsmarkt aus. Es bleibt auch beim Bürgergeld bei Mitwirkungspflichten. Aber wir konzentrieren Sanktionen auf die harten Fälle, wo sie gebraucht werden. Mit dem Bürgergeld setzen wir auf Solidarität, Motivation und Respekt.

Warum braucht es heute andere Antworten auf die Herausforderungen des Arbeitsmarktes als bei der Einführung von Hartz IV im Jahr 2002?

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist heute eine ganz andere als vor 20 Jahren. Damals herrschte Massenarbeitslosigkeit. Heute haben wir den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, müssen aber gegen den Fachkräftemangel kämpfen. Menschen weiter zu qualifizieren und gleichzeitig einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen, halte ich für einen echten Paradigmenwechsel.

Die SPD hat lange mit den Hartz-Reformen gerungen. Werden mit dem Bürgergeld die letzten Wunden geschlossen?

Solche Debatten liegen schon lange hinter uns. Die aktuellen Krisenzeiten verdeutlichen, wie wichtig verlässliche Absicherung ist. Die Qualität des Sozialstaates bemisst sich für die SPD aber nicht allen daran, wie hoch die finanzielle Unterstützung im Einzelfall ist, sondern ob wir Menschen aus der Bedürftigkeit holen und sie in Arbeit bringen. Genau dafür steht das Bürgergeld.

Manch einer spricht sogar schon von einem Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Das ist Quatsch. Die Bedingungen, um das Bürgergeld zu bekommen, sind ja klar. Mit dem Bürgergeld bleibt die SPD die Partei der Arbeit. Arbeit muss immer einen Unterschied machen. Deshalb haben wir zum 1. Oktober den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht. Deshalb haben wir Beiträge und Steuern für Menschen mit geringem Einkommen gesenkt und das Kindergeld erhöht. Wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick behalten und dürfen deshalb auch nicht zulassen, dass Bedürftige gegen Geringverdiener ausgespielt werden. Das ist unser Verständnis von Solidarität.

Können Sie die Kritik an der Höhe des Schonvermögens oder der Länge der Karenzzeit trotzdem nachvollziehen?

Da müssen wir uns einfach die nackten Tatsachsen ansehen. Es gibt Menschen, die erst in der Corona- und jetzt in der Energiekrise kurzfristig in Not geraten sind, sich aber auch schnell wieder daraus retten können. In der Corona-Krise haben wir erlebt, dass Selbstständige, die nie und nimmer damit gerechnet hätten, in die Grundsicherung zu rutschen, plötzlich auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren – unverschuldet. Damals haben wir – übrigens gemeinsam mit der CDU – entschieden, dass sie dafür nicht ihre Altersvorsorge auflösen oder in eine kleinere Wohnung ziehen müssen, weil es ja nur darum ging, eine kurze Durststrecke zu überwinden. Das ist auch eine Frage des Respekts vor der Lebensleistung von Menschen. Derselben Logik folgen wir jetzt beim Bürgergeld. Die jetzt gefundene Lösung hält an dem Prinzip fest.

Mit der Erhöhung des Mindestlohns und der Einführung des Bürgergelds hat die SPD zwei zentrale Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf bereits eingelöst. Was wird jetzt noch kommen?

Zunächst einmal haben wir fortwährend mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kriegs in der Ukraine zu kämpfen. In solch einer Krise können wir nicht einfach den Koalitionsvertrag abarbeiten. Es geht darum, die Krise zu meistern und gleichzeitig für Fortschritt zu sorgen. Ein ganz zentrales Vorhaben wird deshalb die Einführung der Kindergrundsicherung sein, an der ich gemeinsam mit Familienministerin Lisa Paus arbeite. Und so gut und wichtig ein höherer Mindestlohn ist: Wir brauchen wieder mehr Tarifbindung. Auch dafür werde ich mich einsetzen, etwa mit einem bundesweiten Tariftreuegesetz. Ein anderes großes Thema ist die Fachkräftesicherung. Dafür müssen wir das Thema Ausbildung angehen, genauso aber auch die Frage der Zuwanderung. Gemeinsam mit Nancy Faeser arbeite ich deshalb mit Hochdruck an einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Neben einer zuverlässigen Energieversorgung ist die Sicherung von Fachkräften die zentrale Frage, die über unseren Wohlstand im kommenden Jahrzehnt entscheidet. Ich habe deshalb in dieser Regierung noch verdammt viel vor.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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