Soziale Politik

Enzo Weber: Wir brauchen mehr „Klasse“ auf dem Arbeitsmarkt

Der Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber erklärt im Interview mit dem „vorwärts“, warum es sich lohnt, jede*n Einzelnen zu fördern und welche Chancen er für Frauen und Zugewanderte sieht.
von Vera Rosigkeit · 11. April 2023
Enzo Weber ist als Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg tätig und zudem Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.
Enzo Weber ist als Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg tätig und zudem Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.

Mehr als 47.000 junge Menschen haben im Jahr 2021 die Schule ohne Abschluss verlassen. 2,3 Millionen haben keine Berufsausbildung. Gleichzeitig fehlt es an Fachkräften. Müssen wir nicht mehr in Bildung investieren?

Wenn wir feststellen, dass ein Wachsen über Masse nicht mehr geht, werden wir über Klasse wachsen müssen, sprich: aus dem einzelnen Arbeitsplatz mehr machen. Das lässt sich erreichen, indem man in Kompetenzen und Qualifizierung der Beschäftigten und in Ausbildung investiert. Unter Knappheitsgesichtspunkten, aber auch unter Transformationsgesichtspunkten ist eine intensive fortlaufende Qualifizierung zentral.

Was genau ist mit „Klasse“ gemeint?

Wir haben seit 2005 an Beschäftigung aufgebaut, ein Riesenerfolg. Wir haben aber auch den Niedriglohnbereich ausgeweitet, und es gibt immer noch Millionen Mini-Jobberinnen und -Jobber, die eigentlich mehr arbeiten wollen. Gleichzeitig dümpelt unsere Produktivität hinterher, das heißt das, was wir pro eingesetzter Stunde schaffen. Man könnte also deutlich mehr aus den einzelnen Jobs machen. Das meine ich mit „Klasse“.

Was halten Sie von der Ausbildungsgarantie?

Wichtig ist es auf jeden Fall, dafür zu sorgen, dass uns nicht mehr so viele Menschen durchs Raster fallen. Da muss man gegensteuern. Ich würde dafür plädieren, beim Weg in die Ausbildung flexibler zu werden, stärker individuell vorzugehen, modulare Wege anzubieten und da, wo es möglich ist, auch Unterstützung. Wir müssen versuchen, Betriebe einzubinden, im Zweifel auch Teilausbildungen entsprechend zertifizieren und anerkennen. Mangel ist auch eine Chance, Potenziale zu heben. Und Betriebe sind eher bereit, über alte Schatten zu springen, umzusteuern oder noch mehr in die Einzelnen zu investieren. Und wenn sie das tun, sollten sie dabei auch unterstützt werden.

Mit einem Weiterbildungsgesetz will Arbeitsminister Hubertus Heil notwendige Anpassungsqualifizierungen fördern. Ein richtiger Weg?

Man muss zwei Richtungen verfolgen. Zum einen müssen Zweitausbildungen ein normaler Teil des Bildungssystems werden, was sie bisher nicht waren. In Zeiten von Transformation und einem Arbeitsleben, das sich verlängert, ist das kein Privatvergnügen mehr, sondern ein Beitrag dazu, dass sich Arbeitsmarkt und Wirtschaft gut anpassen können. Allerdings ist die Schwelle, in eine Zweitausbildung zu gehen, hoch. Das nach 20, 30 Jahren im Job noch mal anzupacken muss wertgeschätzt werden. Diejenigen, die sich dazu aufraffen, verdienen Unterstützung.

Wir brauchen aber auch eine proaktive Qualifizierung, die nicht erst einsetzt, wenn man sieht, da wird jemand abgehängt. Transformation gelingt nur, indem man vor den Trend kommt. In den Weiterbildungsplänen der Regierung sind einige sehr sinnvolle Instrumente dabei.

Wünschenswert wäre, dass die Umsetzung weniger im Grabenkampf Politik gegen Arbeitgeber geschieht. Die Politik entwickelt Konzepte, die von Betrieben aber häufig als Einmischung und Übergriffigkeit wahrgenommen werden. Ein überflüssiger Konflikt. Denn Qualifizierung in Transformationszeiten braucht beide Seiten.

Welche Rolle spielt die hohe Anzahl an Frauen, die in Teilzeit beschäftigt sind, wenn es darum geht, mehr Fachkräfte zu gewinnen?

Das ist ein großes Potenzial. Man sollte es aber nicht auf eine reine Stundenfrage reduzieren, also darauf, dass Frauen statt vielleicht 25 Stunden zehn Stunden mehr arbeiten. Wichtiger ist die Frage, wie die berufliche Entwicklung von Frauen gerade nach der Kinderphase qualitativ verläuft. An genau der Stelle verlieren wir derzeit viel.

Denn was die reinen Erwerbsquoten angeht, hängen Frauen nicht mehr so stark hinter den Männern zurück. Und Frauen gehen im Schnitt mit einer besseren Qualifikation als Männer in den Arbeitsmarkt hinein. Mit individuellen Arbeitszeitmodellen, guten Mobilarbeitskonzepten und noch umfangreicheren Angeboten bei Kinderbetreuung und Pflege können wir viel gewinnen.

Nun arbeiten viele Frauen in Branchen, die sehr belastend sind, wie Pflege und Gesundheit und verkürzen deshalb ihre Wochenarbeitszeit. Was müsste sich hier ändern?

Nur an den Arbeitsbedingungen liegt das nicht, es gibt strukturelle Ursachen. Die Gründe, dass Teilzeit immer noch als Abstellgleis angesehen wird, liegen meist in der Kinderphase und der Familienarbeit, die überwiegend von Frauen übernommen wird. Hinzu kommt unser Steuersystem, das es stark begünstigt, in einem Mini-Job hängen zu bleiben.

Gerade die Pflege ist auch ein Wahnsinns-Job-Motor. Das schafft Jobs auch für Frauen, die früher vielleicht nicht in Arbeit gewesen wären – an sich erst mal eine gute Sache. Gleichzeitig aber haben wir zu wenige Beschäftigte in diesem Bereich. Das führt dazu, dass die Belastung für diejenigen, die dort sind, hoch ist. Das heißt, wenn wir hier mehr Fachkräfte hätten, würden sich auch die Bedingungen für diejenigen verbessern, die schon da sind. Das geht auch über den Lohn. Lohnsteigerungen wie z. B. in der Metallindustrie, wo sich jedes Jahr die Produktivitätssteigerung auf den Lohn in Tarifverhandlungen aufschlägt, gibt’s in der Pflege nicht. Hier handelt es sich weitgehend um einen an öffentlichen Regeln angelehnten Bereich. Damit ist es eine politische Entscheidung, welche Wertschätzung und welchen Wert man diesen Jobs gesellschaftlich entgegenbringt.

Thema Zuwanderung: Lässt sich damit nachhaltig dem Fachkräftemangel in Deutschland begegnen?

Das Zuwanderungsrecht zu öffnen ist vernünftig. Denn die Potenziale der EU-Zuwanderung sind begrenzt. Die EU altert auch. Es geht nur über Drittländer. Wir müssen allerdings auch bei der Zuwanderung sehen, dass wir viel mehr daraus machen. Vielfach arbeiten Zugewanderte unter dem, was ihre Kompetenzen hergeben würden. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen, die zugewandert sind, ist die niedrigste von allen Gruppen im deutschen Arbeitsmarkt. Auch die Löhne sind niedriger. Wir müssen auch hier für Aufstieg und Entwicklung sorgen, gezielt berufsbegleitend qualifizieren, Kompetenzen nutzen und berufsbegleitend in Sprachförderung investieren. Alles das würde die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt fördern.

Dabei müssen wir auch den Blickwinkel von Zuwanderern einnehmen. Denn sie kommen mit ihren Bindungen an die Herkunftsländer, mit sozialen und familiären Bindungen. Daraus können wir auch mehr machen, indem wir z. B. in den Herkunftsländern Netzwerke aufbauen, die der deutschen Migrationspolitik dienen, aber zugleich auch den Herkunftsländern durch Wissensvermittlung und Vermeidung eines Brain Drain. Und um Bindungen zu nutzen, dürfen Aufenthaltstitel nicht mehr so schnell erlöschen, wenn man sich im Ausland aufhält. Kanada und Frankreich sehen hier etwa drei Jahre vor, statt einem halben wie in Deutschland.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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