Andreas Steppuhn: „Viele Tafeln sind an ihrer Belastungsgrenze.“
IMAGO/Sven Simon
„Die Tafeln“ in Deutschland haben zurzeit so viele Kund*innen wie nie. Wer ist das, der da zu Ihnen kommt?
Zurzeit besuchen etwa 1,6 bis 2 Millionen Menschen regelmäßig die Tafeln. Zu den „klassischen“ Kund*innen, vor allem Bezieher*innen von Bürgergeld oder Arbeitslosengeld sowie Rentner*innen, kommen seit eineinhalb Jahren viele Geflüchtete aus der Ukraine. Inzwischen kommen auch vermehrt Menschen zu uns, die einer regulären Arbeit nachgehen, aber deren Gehalt wegen der steigenden Preise nicht mehr für die volle Versorgung mit Lebensmitteln ausreicht.
Entscheidungen wie die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro und die Erhöhung der Renten haben sich also nicht bemerkbar gemacht?
Die Entscheidungen waren sicher richtig. Sie können die derzeitigen Preisentwicklungen aber nicht ausgleichen. Die Armut in Deutschland nimmt zu. Immer mehr Menschen müssen deshalb beim Essen sparen. Das ist ein zunehmendes Problem, für das es dringend eine Lösung braucht.
Gleichzeitig nehmen die Lebensmittelspenden an die Tafeln deutlich ab. Wie gehen die Einrichtungen vor Ort damit um?
Was in den Supermärkten an Lebensmitteln übrig bleibt, wird seit Jahren weniger. Das ist an sich eine gute Entwicklung, weil die Märkte immer besser kalkulieren können, was sie verkaufen und so weniger Reste bleiben. Für die Tafeln bedeutet das, dass wir versuchen müssen, mehr Großspenden zu erhalten und Lebensmittel schon bei den Erzeugern zu retten, aus Überproduktionen zum Beispiel.
Als Bundesverband fordern Sie schon länger ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Was würde das ändern?
Es gibt derzeit noch zu viele Hürden und rechtliche Unklarheiten, wenn man als Unternehmen Lebensmittel spenden möchte. Über ein Lebensmittelrettungs- und ein Lebensmittelspendengesetz kann das Spenden vereinfacht werden und für alle Beteiligten rechtssicher sein. In Deutschland landen noch zu viele genießbare Lebensmittel im Müll, die wollen wir gerne retten. Was wir jedoch nicht wollen, ist, dass die Tafeln verpflichtet werden, Lebensmittel abzunehmen. Die Tafeln sind keine staatliche Einrichtung, sondern arbeiten ehrenamtlich und freiwillig. Das wollen wir auch weiter so machen. Der Staat kann uns aber sehr gerne dabei unterstützen, indem er sich beispielsweise an der Finanzierung unserer Infrastruktur wie Lagern und Kühltransportern beteiligt. Denn viele Tafeln sind seit Monaten an ihrer Belastungsgrenze.
Vor Ort gibt es deshalb immer mal wieder Aufnahmestopps für neue Kund*innen. Wie wird diese Maßnahme im Bundesvorstand diskutiert?
Es muss ganz klar sein, dass die Tafeln nur ein Zusatzangebot sind für armutsbetroffene Menschen. Es gibt darauf keinen Rechtsanspruch. Wir können nur so viele Lebensmittel verteilen, wie wir vorher gerettet haben. Wenn die Kund*innen mehr und die Lebensmittel weniger werden, bedeutet das für alle erst mal weniger. Irgendwann kann dann ein Punkt erreicht sein, an dem eine Tafel keine neuen Kunden mehr aufnehmen kann oder sogar vorübergehend geschlossen werden muss. Das kann auch daran liegen, dass die Räumlichkeiten zu klein sind für mehr Kund*innen oder dass nicht genug Ehrenamtliche da sind, um beispielsweise die Lebensmittelausgabe zu verlängern. Egal aus welchem Grund: Das ist nie eine leichte Entscheidung, aber wenn sie getroffen wird, ist sie auch notwendig.
Seit Anfang Juli sind Sie Bundesvorsitzender der Tafeln. Vorher waren Sie Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt. Öffnet das neue Zugänge für mehr politische Unterstützung?
Das hoffe ich sehr! Wenn wir sehen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, erwarte ich insbesondere von Sozialdemokrat*innen, dass sie etwas dagegen tun. Als Tafeln sind wir schon lange mit der Politik im Austausch. Das würde ich gern noch verstärken. Unseren konstruktiven Austausch mit Sozialminister Hubertus Heil möchte ich fortsetzen. Auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz würden wir gern über Armut sprechen und darüber, wie sie bekämpft werden kann. Der eine oder andere Kontakt aus meiner Zeit in Bundes- und Landespolitik kann dabei sicher helfen.
Vor ihrer Wahl zum Bundesvorsitzenden waren Sie acht Jahre lang Vorsitzender der Tafeln in Sachsen-Anhalt. Wie sehr hilft diese Landesperspektive für die neue Aufgabe?
Für noch wichtiger halte ich die Perspektive der örtlichen Tafel im Harz, bei der ich mich seit vielen Jahren engagiere. Als Landesvorsitzender war ich auch schon Mitglied im Bundesvorstand, kenne die Arbeit dort also auch schon seit einiger Zeit. Ich denke, ich habe ein ganz gutes Gefühl von der Arbeit auf allen Ebenen, das mir bei meinen Aufgaben als Bundesvorsitzender helfen wird.
Nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden haben Sie die Einführung einer Kindergrundsicherung als wichtiges Instrument zu Armutsbekämpfung genannt. Wie wollen die Tafeln darauf Einfluss nehmen?
Die Kindergrundsicherung ist essenziell, wenn wir Armut in Deutschland effektiv bekämpfen wollen. Die Position der Tafeln ist da ganz klar. Deshalb unterstützen wir auch die zuständige Familienministerin, damit es möglichst bald zu einer Kindergrundsicherung kommt, die diesen Namen verdient. Was im Moment an Geld in der Diskussion ist, reicht bei weitem nicht aus. Neben der reinen Geldsumme ist es aber genau so wichtig, dass die verschiedenen Förderinstrumenten vom Kindergeld bis zum Kinderzuschlag zu einer Regelleistung zusammengeführt werden. Von der bisherigen Regelung sind viele Familien schlichtweg überfordert.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.