SPD-Chefin Saskia Esken auf Sommerreise in Hessen: Unter Strom
Der „Lange Heinrich“ zieht sich schnurgerade durch den Wald. Am Ende des Schotterweges, auf einer Höhe von 500 Metern, ragen die neun Windkraftanlagen in den blauen Himmel. Jede ist rund 200 Meter hoch. 13-mal in einer Minute dreht sich der mächtige Rotor mit den drei Flügeln. Beeindruckt blickt Saskia Esken nach oben. Im Schlepptau hat die SPD-Vorsitzende Journalist*innen verschiedener Medien. Nachdem ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil in der vergangenen Woche Bayern und Südhessen bereist hat, ist Esken nun für zwei Tage in Nordhessen unterwegs.
Die Bürger*innen sollen profitieren, nicht die Konzerne
„Wir haben hier dasselbe Windniveau wie an der Küste“, erklärt der Geschäftsführer des Windparks „Stiftwald“, Lars Rotzsche, ein Mann mit grauem Dutt und grüner Cargo-Hose. Die Planungen für den Windpark begannen direkt nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima 2011. „Es sollten regionale Anlagen sein, bei denen die Wertschöpfung in der Region bleibt“, sagt Arnim Roß, der Bürgermeister der Gemeinde Kaufungen bei Kassel, die am Fuße der Anlage liegt.
Viereinhalb Jahre später sei die Anlage in Betrieb gegangen, berichtet Lars Rotzsche. Eine Rekordgeschwindigkeit, wenn man bedenkt, dass allein das Genehmigungsverfahren neuer Windräder in Hessen im Durchschnitt zurzeit 38 Monate dauert. „Wir haben uns viel Mühe gemacht, die Bürger mitzunehmen“, erzählt Bürgermeister Roß. So gab es nicht nur zahlreiche Informationsveranstaltungen, der Windpark gehört auch örtlichen Bürgerenergiegenossenschaften sowie den umliegenden Gemeinden. „Die Bürger in der Region sollen vom Windpark profitieren und nicht irgendwelche Konzerne“, sagt Arnim Roß.
Ziel der SPD: Hessen soll schnell klimaneutral werden
„Wir müssen die Energiewende so gestalten, dass sie Akzeptanz findet und die Menschen etwas davon haben“, findet auch SPD-Chefin Saskia Esken. Der Windpark ist für sie deshalb ein gutes Beispiel dafür, wie Vor-Ort-Beteiligung gelingen kann. Dass er zu einer Erfolgsgeschichte werden konnte, liegt allerdings auch daran, dass der Wald, in dem der Windpark errichtet wurde, in Privatbesitz ist. Die Pacht, die die Betreiber zahlen, wird zur Wiederaufforstung genutzt. Hätte der Wald dem Land Hessen gehört, wäre die Geschichte womöglich anders ausgegangen: Der Staatsforst darf nur an den Meistbietenden verpachtet werden.
Für Nancy Faeser ist das nicht tragbar. Die Spitzenkandidatin der hessischen SPD für die Landtagswahl am 8. Oktober begleitet Saskia Esken bei ihrem Besuch des Windparks. Als Ministerpräsidentin will sie die Höchstgebotsvorgabe kippen. Auch die Planungs- und Genehmigungsverfahren für den Ausbau der Erneuerbaren Energien sollen deutlich verkürzt werden. „Hessen wird zu einem Bundesland mit den schnellsten Genehmigungsverfahren“, verspricht die SPD in ihrem Wahlprogramm. Als eines der ersten Bundesländer soll Hessen klimaneutral werden.
Künstliche Intelligenz hilft bei der Sicherung der Stromnetze
Damit das gelingt, kommt es auch auf Jochen Bard und sein Team an. Bard leitet den Forschungsbereich Energieverfahrenstechnik am Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik in Kassel und führt Esken und Faeser durch das gerade eingeweihte Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofs. „Wir haben eine recht klare Vorstellung davon, wie Energiebedarf und -erzeugung in Deutschland 2050 aussehen werden“, sagt Bard. Zu diesem Zeitpunkt soll das Land bereits seit fünf Jahren klimaneutral sein. So hat es die Bundesregierung im Klimaschutzgesetz festgeschrieben.
Das Problem: Viele kleine Anlagen zur Stromerzeugung wie die im Wald bei Kaufungen stellen das Stromnetz vor deutlich größere Herausforderungen als Großkraftwerke, die den Strom aus Kohle oder Gas erzeugen. Hinzu kommen Schwankungen, je nachdem, ob der Wind weht oder nicht, die Sonne scheint oder nicht. Am Fraunhofer-Institut haben sie deshalb mithilfe von Künstlicher Intelligenz Verfahren entwickelt, die anhand von Wettervorhersagen ermitteln, wie viel Strom einzelne Windparks erzeugen und an bestimmten Knoten ins Stromnetz einspeisen. Auch beim Schutz bedrohter Tierarten im Umfeld von Windkraftanlagen hilft bereits Künstliche Intelligenz, etwa über die automatische Erkennung von Vogelstimmen.
In der „Leitwarte digitale Energie“ simuliert das Team von Manuel Wickert für Esken und Faeser dann noch einen Zwischenfall. Wickert leitet am Fraunhofer-Institut den Forschungsschwerpunkt Energieinformatik. Auf dem großen Bildschirm sind blaue und rote Linien zu erkennen, die sich bewegen. Mit ein paar Klicks lösen Wickerts Mitarbeiter das Problem, die Linie, die eben noch rot geleuchtet hat, wird grün. „Es ist sehr beeindruckend, was Sie hier machen“, sagt Saskia Esken, als sie nach eineinhalb Stunden wieder in der Eingangshalle der Forschungseinrichtung steht. „Innovationsfähigkeit ist sicher nicht unser Problem.“
Mit dem „Sunnyboy“ fing es an
Was am Fraunhofer-Institut in der Theorie entwickelt wird, setzt die Firma SMA Solar Technology nur wenige Kilometer entfernt in die Praxis um. Begonnen hat das Unternehmen 1981 mit der Herstellung von Wechselrichtern, die den Gleichstrom, den eine Photovoltaik-Anlage erzeugt, in Wechselstrom umwandelt, damit er ins Stromnetz eingespeist und genutzt werden kann. Der erste Wechselrichter von SMA trug den bezeichnenden Namen „Sunnyboy“. Ein Exemplar steht noch immer im Eingangsbereich.
„Wir bauen keine Solarmodule, sondern die intelligente Technik dahinter“, erklärt der Vorstandsvorsitzende von SMA, Jürgen Reinert, während er Saskia Esken und Nancy Faeser am „Sunnyboy“ vorbei und in die Produktionshalle führt. „Keine Form der Stromerzeugung ist so günstig wie die Photovoltaik“, sagt Reinert. Davon profitiert auch SMA: Bis 2025 will das Unternehmen seine Produktion verdoppeln. Gerade wird eine neue Fabrikhalle gebaut, direkt neben der bestehenden.
Kein Nachteil gegenüber anderen Produzenten
Die Situation für SMA und die gesamte Branche der Erneuerbaren Energien war nicht immer so rosig. „Anfang der 2000er war Deutschland die Nummer eins“, erinnert Jürgen Reinert. „Dann ist hier der Markt implodiert.“ Vor allem aufgrund politischer Entscheidungen sei der Umsatz von SMA zwischen 2010 und 2015 um 90 Prozent gefallen. „Danach haben wir uns noch breiter aufgestellt“, berichtet Reinert. Neben Wechselrichtern stellt SMA inzwischen auch Stromspeicher und Ladesysteme für Elektroautos her. In diesem Jahr will das Unternehmen auf 4.000 Mitarbeiter*innen anwachsen.
„Sie waren schon immer eines unserer Vorzeige-Unternehmen“, lobt am Ende der Besichtigung Nancy Faeser. Denn neben Innovationen setzt SMA auf die Langlebigkeit ihrer Produkte. „Eine Lebensdauer von fünf Jahren ist nicht nachhaltig“, sagt Jürgen Reinert. Bei SMA müssten es mindestens 20 Jahre sein. Ein Ziel, das auch ein Wettbewerbsnachteil gegenüber Produzenten aus Asien sein kann. „Es wäre schön, wenn das von der Politik mehr gewertschätzt würde“, gibt der Vorstandsvorsitzende deshalb Esken und Faeser mit auf den Weg. „Wir wollen keinen Bonus, sondern nur keinen Nachteil.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.