Bürgermeister-Kandidatin Babette Nieder: Von Herten in die Welt und zurück
Babette Nieder wuchs in Herten im Ruhrgebiet auf. Dann zog sie in die Welt hinaus, arbeitete unter anderem für die französische Premierministerin und die EU-Kommission. Nun ist die 61-Jährige zurück in ihrer Heimatstadt, wo sie Bürgermeisterin werden und die SPD wieder in die Erfolgsspur führen will.
Jonas Jordan/vorwärts
Bei 36 Grad von Tür zu Tür: Bürgermeisterkandidatin Babette Nieder mit dem SPD-Stadtratskandidaten Bodo Ladwig im Hertener Stadtteil Bertlich
An Entschlossenheit mangelt es Babette Nieder nicht. „Meine Prämisse war von Anfang an, als ich die anderen Kandidaten gesehen habe: Ich habe mehr Energie als die alle“, sagt die 61-Jährige während einer Sitzung ihres SPD-Ortsvereines Herten-Mitte. Die Energie braucht sie in den kommenden Wochen auch, um sich bei der Kommunalwahl gegen sieben Mitbewerber durchzusetzen und die erste Bürgermeisterin der Stadt mit etwas mehr als 60.000 Einwohner*innen zu werden.
Haustürwahlkampf bei 36 Grad
Herten liegt im Ruhrgebiet und ist doch überraschend grün, in manchen Teilen der Stadt geradezu ländlich. Zwischen hochstehenden Maisfeldern liegen Bauernhöfe. Auf einem von ihnen meckern fünf Ziegen im Gehege. Bei 36 Grad scheint es auch ihnen zu heiß zu sein. Immerhin können sie an diesem Augusttag im Schatten bleiben. Nicht so Nieder, die wenige Kilometer weiter in einer alten Bergarbeitersiedlung im Stadtteil Westerholt/Bertlich mit dem SPD-Ratskandidaten Bodo Ladwig in der prallen Sonne verabredet ist.
Ladwig ist auch Vorsitzender der Leichtathletikabteilung des ansässigen Sportvereins SuS Bertlich. „700 Mitglieder“, erzählt er stolz und zeigt sich ebenso angetan von der neuen Sportanlage samt Kunstrasenplatz und neuer Tartanbahn, die auf Betreiben der SPD entstanden ist. „Es tut sich was im Stadtteil“, sagt Ladwig. Davon will er die Bewohner*innen überzeugen. Seit acht Uhr morgens ist er unterwegs, 800 Flyer hat er schon verteilt, das erste T-Shirt durchgeschwitzt. Angenehmer ist es für eine Familie im Garten ihres Hauses. Sie haben ein Schwimmbecken aufgestellt, in dem sich die Enkel vergnügen. Der Opa fragt Nieder: „Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?“
Noch vor zehn Jahren absolute SPD-Mehrheit
Die Sozialdemokratin erzählt von positiven Begegnungen in den vergangenen Wochen. Doch so wirklich kann niemand die Stimmung einschätzen. Meinungsumfragen gibt es bei Kommunalwahlen kaum. Ohnehin ist die politische Gemengelage in Herten unübersichtlicher und für die SPD schwieriger geworden. Noch 2014 holte die Partei bei der Stadtratswahl stolze 51 Prozent der Stimmen. Doch als der beliebte Bürgermeister Uli Paetzel das Rathaus gegen den Posten als Vorstandsvorsitzender bei der Emschergenossenschaft tauschte, fühlten sich viele in Herten von der Sozialdemokratie enttäuscht.
Anschließend wurde Fred Toplak, parteiloser Eigentümer einer Werbeagentur, aus dem Stand Bürgermeister. „Wir nennen ihn hier manchmal unseren Mini-Trump“, sagt Nieder über ihren Mitbewerber, der häufig gegen die SPD wettert und mit seiner neu gegründeten Top-Partei bei der vergangenen Stadtratswahl prompt fast 20 Prozent der Stimmen holte. Zwar verlor Toplak die Bürgermeisterwahl 2020 knapp, jetzt will er es jedoch mit 66 Jahren noch einmal wissen und zielt auf die Unzufriedenheit vieler Menschen. „Wie ist dieses Meckern entstanden? Was haben wir falsch gemacht?“, fragt sich Elisabeth Linkmann. Sie ist Genossin und bittet Ladwig und Nieder beim Haustürwahlkampf kurzerhand in ihr gut gekühltes Wohnzimmer.
„Wer wirklich viel Arbeit hat, hat keine Zeit zu meckern“, meint Nieder und verweist lieber auf ihre langjährige Berufserfahrung. Sie arbeitete für die damalige französische Premierministerin Edith Cresson in Paris, für die EU-Kommission in Brüssel, für das deutsch-französische Jugendwerk in Paris und Berlin. Inzwischen ist sie Geschäftsführerin der Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Emscher-Lippe-Region. Nachdem ihr Vater an Parkinson erkrankt war, kehrte sie 2010 nach 28 Jahren wieder in ihre Heimatstadt zurück.
Herten war einst größte Bergbaustadt Europas
Herten galt einmal als größte Bergbaustadt Europas. Auch Nieders Großvater war Bergmann, ihr Vater finanzierte sich unter Tage sein Studium. Die Zeiten haben sich geändert. Nun werden die Häuser in der ehemaligen Bergmannssiedlung nach und nach verkauft. Zurzeit gibt es Streit, ob der Denkmalschutz Photovoltaik auf dem Dach erlaubt. „Ah, der hier hat’s schon genehmigt bekommen“, sagt Nieder und fährt die Straße weiter. „Das hier waren die Meisterhäuser. Sie sind etwas größer und näher an der Zeche, weil die Meister immer direkt vor Ort sein mussten, wenn etwas passiert war“, erklärt sie fachkundig. Die Zeche Westerholt an der Stadtgrenze zu Gelsenkirchen war die letzte, die im Dezember 2008 schloss.
Heute liefert Herten statt Kohle Strom aus Windrädern und Wasserstoff. In der Stadt ist eine der größten Wasserstoff-Tankstellen Nordrhein-Westfalens. Auch einige Busse fahren bereits mit dem Energieträger der Zukunft. Nieder kennt sich damit aus. Sie arbeitete bis 2024 vier lange Jahre als Wasserstoffkoordinatorin, fährt selbst ein E-Auto und will die Stadt weiter Richtung Klimaneutralität führen. „Die Menschen hier sind besonders und haben es verdient, dass man nach all den Strukturkrisen wieder nach vorne schaut“, sagt Nieder.
Mit Nieder Richtung Zukunft
Bei ihr selbst geht der Blick nach vorne unmittelbar Richtung Bürgermeisterwahl. Sie sitzt im Stadtrat und führt die Hertener SPD seit sechs Jahren. Für den Wahlkampf hat sie sich ihren Jahresurlaub genommen. Im Vorbeifahren erzählt sie stolz von den Ideen hinter ihren Großflächenmotiven in der Stadt. Sie will sich abheben von den anderen Kandidierenden und gleichzeitig punkten mit ihrer Erfahrung und Bodenständigkeit. Luftschlösse zu bauen, überlässt sie anderen.
Nieder schaut ehrfürchtig, als sie ein Ankündigungsplakat für „Summer in the city“ sieht – ein kostenloses Straßentheater samt Trapezshow in luftiger Höhe mitten in Herten. Aber den Slogan findet sie gut. „Angst verdirbt den Charakter“, heißt das Programm, mit dem die Artistin Julia Knaust am Trapezseil persönliche Ängste, gesellschaftliche Unsicherheiten und die spürbare Veränderung des politischen Klimas thematisiert. Ein Thema, das auch Nieder angesichts steigender AfD-Ergebnisse umtreibt. „Wenn wir jetzt nicht die Kurve kriegen, wird es wirklich schwierig“, mahnt sie. Spätestens mit dem Ausgang der Stichwahl am 28. September wird sich zeigen, ob ihr das gelingt.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo