Wolfgang Thierse: Verdammung der SPD-Entspannungspolitik ist falsch
imago images/photothek
Das ist tatsächlich ein historischer Einschnitt: Das Undenkbare, das Unfassbare ist geschehen – ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft, in Europa. Es gibt keinen anderen Vergleich: Wie Hitler-Deutschland 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, so führt Putin-Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine. Und verletzt alle Regeln und Verträge, die bisher die europäische Friedensordnung ausgemacht haben, missachtet das internationale Recht, zerstört mit der Ukraine auch den europäischen Frieden.
Putin führt mit steigender Brutalität Krieg und begeht Brudermord. Die täglichen Bilder davon – erst recht die von Kriegsverbrechen – machen traurig und zornig und verzweifelt. Sie müssen Anlass für kritisches, auch selbstkritisches Nachdenken sein. Und auch für politische Konsequenzen und Neuorientierungen, wie sie Bundesregierung und Kanzler Scholz begonnen haben.
CDU/CSU tut, als wäre sie nie dabei gewesen
Der emotionale Schock also ist verständlich, aber sind es die moralischen Schuldzuweisungen an die SPD auch, mit denen sich jetzt Politiker und Journalisten Tag für Tag geradezu überbieten? In einer Art negativer Euphorie wird nahezu alles verdammt und verteufelt, was vor dem 24. Februar deutsche und westliche Politik gegenüber Russland war, personifiziert in Frank-Walter Steinmeier, der nicht nur vom ukrainischen Botschafter attackiert wird.
Und CDU/CSU tun so, als wären sie nie dabei gewesen, obwohl doch die Kanzlerin und alle Verteidigungsminister der vergangenen 16 Jahre CDU-Mitglieder waren. Nein, Steinmeier ist Repräsentant einer Politik, die in den vergangenen Jahrzehnten quer durch alle demokratischen Parteien betrieben wurde und die von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde: der Entspannungspolitik! Ich halte sie gegen alle aktuellen Verteufelungen für eine Erfolgsgeschichte.
Nicht Panzer brachten die Sowjetunion zu Fall
Erinnern wir uns: Nicht Krieg, nicht Bomben und Panzer haben zum Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums geführt, sondern die Soft-Power und ökonomische Kraft des Westens (und natürlich Gorbatschow und die zivilgesellschaftlichen Oppositionen im östlichen Teil Europas). Auf der Basis westlicher Stärke (und auch des Abschreckungspotentials der USA) und der Kooperationsbereitschaft einer defensiv gewordenen Sowjetunion konnten Egon Bahr und Willy Brandt ihr Konzept der Entspannungspolitik verwirklichen: Wandel durch Annäherung/gemeinsame Sicherheit.
Die KSZE und die Helsinki-Schlussakte waren ein erster großer Schritt zu einer europäischen Friedensordnung unter den Bedingungen des gefährlichen Ost-West-Systemgegensatzes. Die Einebnung der Schützengräben des Kalten Krieges zählte zu den Voraussetzungen für die friedlichen Revolutionen und die Überwindung der kommunistischen Diktaturen. Es folgten 1990 die Charta von Paris, die die neue Friedensordnung Europas ausrief, zu der ausdrücklich die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Staaten und die freie Bündnisentscheidung gehörten. Es folgten die Budapester Vereinbarung von 1994 und die NATO-Russland-Akte von 1997. (Sie alle tragen die Unterschrift Russlands!)
Putin beendete den Frieden in Europa
Wir Deutsche, wir Europäer konnten nach 1990 mit starken, guten Gründen meinen, dass Frieden in Europa dauerhaft möglich sei, dass wir Deutsche – umzingelt von Freunden – in einem Zustand historischen Glücks leben könnten. Dieses friedliche Kapitel der europäischen Geschichte ist von Putin abrupt beendet worden. Bis zum 24. Februar konnten wir Europäer glauben, dass Vereinbarungen gelten, dass wirtschaftliche Verflechtungen friedenssichernde Wirkungen haben und gute Sicherheitspolitik sind. – So wie ja auch die westeuropäische Einigung seit den 50er Jahren wirtschaftliche Verflechtung als Basis hatte.
War es gutgläubig, mit Russland und mit Putin im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein verbrecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: Das Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte. Die Enttäuschung darüber sollte nicht dazu führen, alle Ideen, Konzepte, Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. Vielleicht werden wir einige nach dem Krieg und nach Putin wieder brauchen?
Friedenspolitik bleibt weiter nötig
Ja, Friedenspolitik kann scheiten – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch. In der Tradition der Entspannungspolitik haben auch und gerade sozialdemokratische Außenminister den immer mühseligen Versuch unternommen, mit dem schwierigen, aber eben gewichtigen Partner Russlands im Gespräch zu bleiben, die Beziehungen zu pflegen, wie das andere westliche Länder ja auch taten. Es war vernünftig, mit ihm in Verhandlungsprozessen zu bleiben, das Minsker Abkommen zu schließen, im Normandie-Format Kompromisse zu suchen, um den sich zuspitzenden Konflikt nicht noch heißer werden zu lassen. Diese Bemühungen bis an die Grenze der Selbstdemütigung waren schließlich auf den gefährdeten Frieden gerichtet.
Nach deren Scheitern spätestens am 24. Februar sind Ernüchterung und selbstkritisches Rückfragen angebracht. Nicht aber die moralische Verdammung all dieser Friedensbemühungen! Wir Sozialdemokraten sollten uns dagegen wehren und zugleich an der (Wieder-)Herstellung einer verlässlichen europäischen/globalen Friedensordnung arbeiten – mit einem Russland nach Putin. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Welt sich den eigentlichen Menschheitsproblemen widmen kann: dem Klimawandel, der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut und sozialen Ungerechtigkeit. Wie auch die Lösung dieser Aufgaben Voraussetzung für globalen Frieden ist.
Fähigkeit zur Selbstverteidigung unverzichtbar
Die Selbstverteidigungsfähigkeit des demokratischen Europas und seine Kooperationsbereitschaft sind gleichermaßen notwendige und vernünftige Beiträge zu einer neu zu gewinnenden globalen Friedensordnung. Das wird unendlich viel größere Anstrengungen verlangen, als wir es uns bisher vorzustellen vermögen.
war 1990 Vorsitzender der SPD in der DDR, von 1990 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender der SPD und von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestags.