Meinung

Wolfgang Thierse: „Diese Spannung ist für die SPD wichtig.“

Wolfgang Thierse wird 80. In einem Interviewband macht er sich u.a Gedanken über das Profil der SPD in der Regierung. Seiner Partei rät der ehemalige Bundestagspräsident: Es muss deutlicher werden, was die sozialdemokratischen Themen und Akzente sind
von Wolfgang Thierse · 21. Oktober 2023
SPD-Urgestein Wolfgang Thierse: Was würden wir machen, wenn wir noch mehr Einfluss hätten?
SPD-Urgestein Wolfgang Thierse: Was würden wir machen, wenn wir noch mehr Einfluss hätten?

Die Sozialdemokratie ist trotz ihres überschaubaren Wählerzuspruchs eine unglaublich erfolgreiche Partei auf zentralstaatlicher Ebene. Sie ist seit 1998 mit der Unterbrechung 2009 bis 2013 an Regierungen beteiligt, bzw. besetzt das Kanzleramt. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis bzgl. der Eigenständigkeit der Partei. Es stehen sich gegenüber, auf der einen Seite die Partei als Exekutive in der Regierung und auf der anderen Seite die Partei, die an eigenen Ideen und Pro- grammpunkten interessiert ist. (…)

Kleine Schritte nach außen, große Reformen nach innen

Willy Brandt hat dazu das schöne Wort gefunden, die SPD sei die Partei des donnernden Sowohl-als-Auch. Damit meinte er schon den idealistischen Überschuss, das Traditionsbewusstsein, das Bedürfnis nach Zielorientierung über den Tag hinaus und andererseits die Fähigkeit zu wirklich pragmatischem Handeln Schritt für Schritt.

Diese Verbindung hatte er als Berliner Bürgermeister fertiggebracht in einer ganz anderen Konstellation als entschiedener, pathetischer und hocherfolgreicher Antikommunist in der Bedrohungssituation der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Um dann fähig zu sein zu kleinen Schritten der Entspannungspolitik nach außen und den großen Reformen nach innen. Das hat viele Menschen überzeugt.

Wichtige Rolle der SPD-Grundwertekommission

Die gegenwärtige Schwäche besteht darin, dass das Moment des Überschusses, des Traditionsbewusstseins und der Zielorientierung viel schwächer geworden ist. Als Rot-Grün regierte und ich Bundestagspräsident und gleichzeitig Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission war, habe ich immer wieder betont, dass es für die SPD wichtig ist, diese Spannung aufrechtzuerhalten. In der Partei muss über mehr diskutiert werden als das jeweils gerade zu verabschiedende Gesetz.

Es geht darüber hinaus darum, was diese möglichen Gesetze mit welchem Ziel zu tun haben. Das ist die entscheidende Frage. Deswegen ist die Grundwertekommission, so überflüssig sie manchem erscheinen mag, ein not- wendiger Ort, wo schon institutionell festgehalten ist, dass die SPD eine Partei ist, die über den Tag hinaus diskutiert. Würde die Sozialdemokratie diese Spannung beseitigen, betrüge sie sich selber, würde ihr die Luft ausgehen. (…)

Resilienz organisieren, statt Utopien vertreten?

Was für eine Politik können wir machen, bei der die Leute glauben, wir sichern in der Zukunft auf eine realistische Art und Weise das menschenwürdige Überleben? Manche sprechen hier von Widerstandsfähigkeit gegen Krisen und Disruptionen. Keine großen Utopien mehr, sondern Resilienz organisieren, um damit Katastrophen im Zuge des Klimawandels glaubhaft zu überstehen. Ich lese von klugen Leuten, es wäre schon sehr viel, wenn wir Resilienz so organisieren könnten, dass die kommenden Katastrophen nicht unsere Freiheit, unsere Rechtsstaatlichkeit, unsere sozialen Sicherheiten zerstören würden.

Ob die Breite unserer Antworten der ökologischen Herausforderung entspricht, da bin ich mir nicht sicher. Etwa gab es beim Heizungstausch-Gesetz, bei allem operativen Handlungsdruck der Regierung, interessanterweise keine Diskussion in der SPD darüber, ob die CO2-Bepreisung nicht ein besserer Weg wäre. Ich bin da kein Experte, hätte die Diskussion darüber aber ganz sinnvoll gefunden. So etwa schlug Ottmar Edenhofer vom Potsdamer Klimaforschungsinstitut diesen anderen Weg vor, er habe weniger technische Schwierigkeiten, sei effizienter und sozial gerechter.

Ist die SPD bereit, die Klimakatastrophe zu verhindern?

Kurzum und durchaus nicht pessimistisch oder apokalyptisch: Wir müssen diese Herausforderung annehmen, daher mein Begriff „Überlebenspolitik“: Dazu gehört, alles Notwendige zu tun, um den Klimawandel zu bewältigen und die Katastrophe zu verhindern – und das unter Wahrung von Freiheit und Fairness bei der gerechten Lastenverteilung dieser Herausforderung. Dazu gehört aber auch, sich darauf einzustellen, dass wir im Klimawandel etwa in größerer Hitze werden leben müssen

Was ist dafür notwendig? Wie muss sich unser Gesundheitswesen in der gesamten Breite darauf einstellen und ändern? Was heißt das für die Zukunft der Arbeit und die Arbeitsplätze der Zukunft? Ist die Partei, wenn man solche Fragen stellt, so aufgestellt, dass sie solche breiten Zukunftsthemen abdecken kann? Gibt es Bereiche, die in der SPD unzureichend mit Personen, mit Fachkompetenz besetzt sind? (…)

SPD pur stärker heraustellen

Das darf nicht alleine der Regierung überlassen werden, sondern da sollte die Partei sich den Luxus leisten, gelegentlich auch selber etwas zustande zu bringen. Gerade jetzt sind wir in einer Koalition, wo die anderen durch ihre Lautstärke die Wahrnehmung bestimmen. Da muss man sicher sein, was die SPD selber ist. Was würden wir machen, wenn wir noch mehr Einfluss hätten? Dieser sichtbare Streit in der Koalition ist meist der zwischen Grünen und FDP, das sind die Antipoden. Deutlicher muss da werden, wo die sozialdemokratischen Themen und Akzente geblieben sind.

Schönes Beispiel ist die Kindergrundsicherung. Das ist eine sozialdemokratische Idee gewesen u.a. von Andrea Nahles. Es ressortiert jetzt bei den Grünen als deren Thema, weil die SPD in dieser eigentümlichen Lage ist, immer zu moderieren und zu vermitteln. Das ist tatsächlich die Aufgabe des Kanzlers, aber doch nicht die Aufgabe der Parteivorsitzenden. Die könnten daneben auch verstärkt Themen setzen und diese durchhalten, auch wenn man da zunächst einmal alleine dasteht.

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Autor*in
Wolfgang Thierse

war 1990 Vorsitzender der SPD in der DDR, von 1990 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender der SPD und von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestags.

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