Meinung

SPD auf Tiktok: Die Demokratieoffensive muss jetzt beginnen

Seit Anfang des Jahres ist die SPD auf Tiktok. Endlich, meint unser Gastautor. Wenn sie das Momentum clever nutzt und viele von der Basis mitmachen, gebe es die Chance, die Plattform der AfD zu entreißen und ihr einen sozialdemokratischen Anstrich zu geben.

von Tim Vollert · 19. März 2024
Politische Inhalte statt nur Tanz-Videos: Die SPD muss Tiktok zurückerobern, meint Tim Vollert.

Politische Inhalte statt nur Tanz-Videos: Die SPD muss Tiktok zurückerobern, meint Tim Vollert.

In weniger als drei Monaten findet die Europawahl statt. Dass die Planung und Vorbereitung eines guten Online-Auftrittes zum Wahlkampf gehören, ist längst Standard geworden. In den vergangenen fünf Jahren hat die SPD sich in allen Strukturen der Partei mit Instagram und Facebook angefreundet und einige Mitglieder unserer Partei sind sogar regelrecht Influencer*innen. Aber erst seit Anfang dieses Jahres kann man einen SPD-Account auf Tiktok finden.

Die AfD hat das Potenzial von Tiktok schnell begriffen

Von seltenen Ausnahmen mal abgesehen sind Vertreter*innen aller demokratischen Parteien und Institutionen einer Plattform (bisher) ferngeblieben, von welcher viele noch denken, dass sie nur für Tanzvideos ist. Dies ist ein fataler Fehler gewesen. 

Es haben nicht mehr als 20 Millionen Deutsche einen Tiktok-Account, weil wir eine Nation der Tänzer*innen sind. Die Plattform ist schon längst eine Quelle für Nachrichten und Entertainment für ein Viertel der Bevölkerung gewesen als in Social-Media-Seminaren noch erklärt wurde, dass das Publikum dort zu jung sei, um für den Wahlkampf relevant zu sein.

Tatsächlich ist Tiktok eine App, die überwiegend von jungen Menschen genutzt wird. Und da Stiftungen, Ministerien und politische Organisationen ähnlich inaktiv waren wie die SPD, wurden Schüler*innen und Azubis, also baldige Erstwähler*innen, auf Tiktok schnell von Neonazis und anderen Extremist*innen an die Hand genommen, als sie anfingen, sich politisch zu orientieren. Insbesondere die AfD hat das Potential der Plattform für politische Inhalte früh begriffen.

Die SPD nimmt eine Vorreiterrolle ein

Dass die demokratischen Parteien lieber auf Twitter (nur drei Millionen Nutzer*innen) davor gewarnt haben, dass man einer chinesischen App nicht trauen darf (Tiktok wird vom chinesischen Unternehmen „ByteDance“ betrieben), statt ein Gegengewicht zur AfD auf der beliebtesten App der Jugend zu setzen, hat definitiv dazu beigetragen, dass insbesondere junge Männer laut Umfragen immer weiter nach rechts abdriften. In mehreren Fällen habe ich es erlebt, dass Jugendliche auf Tiktok SS-Totenkopfschädel als Profilbild hatten, ohne die Bedeutung des Nazi-Symbols überhaupt zu kennen. Das ist keine Schuld des Algorithmus, sondern des massiven Mangels an alternativen Einflüssen. 

Umso erfreulicher ist es, dass die SPD jetzt bei der Rückeroberung von Tiktok eine Vorreiterrolle einnimmt. Wenn sie das Momentum clever nutzt, gibt es die Chance, der Plattform einen sozialdemokratischen Anstrich zu geben. 

Neben der Bundes-SPD ist jetzt mit Katarina Barley erstmals eine Spitzenkandidatin auf Tiktok vertreten. Am Montag gab auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine Tiktok-Premiere. Das reicht aber natürlich nicht aus. Wir brauchen Hunderte Genoss*innen, die den Sprung „rüber“ wagen.

Die – meinst jungen – Nutzer*innen wollen ernst genommen werden

Vor wenigen Wochen wurde über die Parteischule das erste Tiktok-Seminar durchgeführt mit ungefähr 100 Teilnehmer*innen. Ziel dieser Seminare ist es nicht einfach ,den Mitgliedern zu zeigen wie Tiktok funktioniert, sondern ganz konkret zu zeigen, wie man Influencer*in wird. Das ist leichter als man denken mag, denn Tiktok ist die Plattform, auf der man am schnellsten Reichweite aufbauen kann. Und dafür muss man auch nicht jung sein und man sollte definitiv nicht auf Tanzvideos oder Memes setzen.

Die Zuschauer*innen auf Tiktok belohnen Authentizität. Sie wollen ernst genommen werden. Wer versucht, junge Menschen mit Memes zu erreichen zeigt nur, dass er keine Inhalte hat, die diese Gruppe interessieren könnten. 

Junge Menschen hören aber auch einem 60-jährigen Mann zu, der charismatisch und interessant politische Inhalte vor der Kamera erklärt, wenn diese richtig rübergebracht werden. Und hier müssen viele Genoss*innen über ihren Schatten springen und ihr Medienverhalten ändern.

Eine Prise Populismus tut Not

Tiktok ist eine Kurzvideoplattform. Wenn ein Video nicht in den ersten drei Sekunden interessant genug wirkt, scrollen die Nutzer*innen weiter zum nächsten. Das bedeutet auch, dass die SPD lernen muss, eine Prise Populismus zu benutzen. Wenn ich in den ersten Sekunden darüber schimpfe, dass die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung dem Klimaschutz gewaltig schaden, bleiben die Leute lang genug, damit ich anschließend die Reichensteuer erläutern kann – obwohl diese den Klimawandel nicht stoppen wird. 

Jede*r sollte sich also dazu eingeladen fühlen, ein Teil der SPD-Demokratieoffensive zu werden.

Autor*in
Tim Vollert

ist Wissenschaftsinflluencer und hat das Netzwerk „Klimagerecht“ in der SPD initiiert. Er arbeitet als freier Social-Media-Manager für den vorwärts-Verlag.

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1 Kommentar

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Di., 19.03.2024 - 14:38

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gelingen, solche Plattformen strukturell einzuhegen, so wie dies beim Rundfunk auch gelungen ist. Wir brauchen dazu einen rechtlichen Rahmen und Mitgestaltungsrechte (Netzräte), wie bei ÖRR- sonst fangen wir die Geister nicht mehr ein- so meine Befürchtung