Rechtsruck bei der Europawahl: Warum die Sorge vor der AfD berechtigt ist
Die AfD werde nicht trotz, sondern wegen ihres Rechtsextremismus und ihrer Verachtung der parlamentarischen Demokratie gewählt, meint Christian Wolff. Deswegen sei es höchste Zeit, nichts mehr zu beschönigen, sondern die Gefahr zu erkennen, fordert er.
IMAGO / Funke Foto Services
Protest gegen die AfD am Tag vor der Europawahl
Das Ergebnis der Europawahl und der Kommunalwahlen in vielen Bundesländern am 9. Juni ist in jeder Hinsicht ernüchternd, die Reaktionen bei vielen Menschen einen Tag danach entsprechend entsetzt: Wie kann das sein, dass die rechtsextremistische, nationalistische und in Teilen faschistische AfD bundesweit so stark zulegt?
AfD-Wähler*innen lassen Fremdenphobie freien Lauf
Das Erschreckende: In diesem Ergebnis ist kein Ausdruck von Protest, kein Versagen anderer Parteien zu erkennen. In den Wahlergebnissen wird sichtbar, dass viele Wähler*innen im vollen Wissen um die Absichten der Rechtsextremisten ihre Stimme der AfD oder noch radikaleren Gruppierungen wie den „Freien Sachsen“ gegeben haben – nicht weil Millionen erwerbsloser Menschen vor Arbeitsämtern stehen, nicht weil Millionen Menschen verarmen, nicht weil unser Land vor dem Abgrund steht.
Nein, offensichtlich haben bis zu 30 Prozent der Wähler*innen und mehr eine indifferente Angst um den Erhalt ihres oft hohen Lebensstandards. Sie sehen ihn weniger bedroht durch Eruptionen des Klimawandels wie Überschwemmungen als durch Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen. Das möchten AfD-Wähler*innen lieber heute als morgen beenden – und lassen ihrer Fremdenphobie freien Lauf.
Zustimmung in vollem Wissen um die Skandale
Ein schon lange rumorender Lebensverdruss, eine durchaus aggressiv-angstbesessene asoziale Egomanie, der Mangel an einem inneren Krisenmanagement, das einem Menschen Orientierung verleiht, einen resilienten Umgang mit Verwerfungen und Ängsten ermöglicht, verleiten offensichtlich Millionen Wähler*innen, ihre Stimme denen zu geben, die genau diese selbstbezogene Gefühlslage durch Fakes, Tiraden und Zerrbilder schüren und mit dem Versprechen von kultureller Abschottung, gesellschaftlicher Homogenität und nationalistischer Überheblichkeit Abhilfe vorgaukeln.
Das ist auch der Grund dafür, dass das Verstecken der AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl offensichtlich keinerlei negative Folgen auf das Wahlergebnis für die AfD hatte. Vielmehr erfolgt die Zustimmung für die AfD per Wahlzettel im vollen Wissen um die Absichten der Rechtsnationalisten, ihrer Machenschaften und Skandale:
- die Demokratie, Vielfalt, Offenheit, Freiheit zu zerstören, das „System“ zu überwinden und mit den „Alt-Parteien“ aufzuräumen durch die Errichtung einer sogenannten Volksherrschaft (wobei zum „Volk“ nur die gehören, die sich dieser Herrschaft unterwerfen);
- Europa mit der „Abrissbirne“ zu zertrümmern – so nicht nur der gerade gewählte Leipziger AfD-Europaabgeordnete Siegbert Droese;
- durch Nationalismus den Keim für neue Kriege zu legen.
Letztere Absicht wird nur notdürftig verdeckt durch den aberwitzigen Versuch der AfD, sich als „Friedenspartei“ aufzuspielen. Da wird ein Waffenstillstand mit Russland gefordert, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was aus der von Russland überfallenen Ukraine werden soll – umso Russland zu überlassen, wie viele Gebiete der Ukraine sie sich mit einem Friedensschluss einverleiben will.
Als nächstes wollen sie das Elsass zurück
Das ist insofern folgerichtig, weil die antieuropäische Politik der AfD nichts anderes bedeutet, als die Grundlage für nationalistische, notfalls militärisch durchzusetzende Gebietsansprüche zu schaffen. Die gleichen Leute, die jetzt die Abrissbirne aktivieren, um Europa zu zerstören und um einen nunmehr autonomen und autarken deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas zu etablieren, werden im nächsten Schritt – nachdem alle politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Verbindungen zu den Nachbarländern gekappt bzw. einfroren worden sind – Gebietsansprüche auf das Elsass, Nord-Schleswig oder Pommern, Ostpreußen, Schlesien erheben.
Übertreibung? Hoffentlich erweist es sich in den nächsten Jahren so! Aber ich mache mir keine Illusionen. Wenn jetzt ein Neonazi und Hitler-Verehrer wie Tommy Frenck bei der Landratswahl in Hildburghausen/Thüringen im zweiten Wahlgang mehr als 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann, verbietet sich jede Schönfärberei. Die Landkarten von einem Deutschland in den Grenzen von 1937 hängen nicht nur in den Hinterzimmern schmuddeliger Nazi-Treffpunkte.
Nichts mehr beschönigen!
Das alles ist denjenigen, die AfD gewählt haben, voll bewusst – und sie haben dennoch keine Skrupel mit der Anschlussfähigkeit der AfD zur Nazi-Zeit, keine Vorbehalte gegen die Höckes, Gaulands, Krahs: Denn das war doch in den zwölf Jahren alles nicht so schlimm, wie behauptet wird … nicht jeder SS-Mann war ein Verbrecher … und überhaupt: Ist die Erinnerungskultur nicht ein Produkt der westlichen Siegermächte, die den Deutschen jahrzehntelang eingetrichtert wurde von den bundesdeutschen Eliten, von denen sich das Volk nun befreien muss? Ist darum die Stimmabgabe für die AfD nicht eine Art Befreiungsakt von Bevormundung wie zu DDR-Zeiten?
Übertrieben? Ich fürchte, nein. Wir werden erst dann, wenn wir an der Stimmabgabe für die AfD nichts mehr beschönigen, in der Lage sein, die Gefahrenlage ermessen können. Die AfD wird nicht trotz, sondern wegen ihres Rechtsextremismus, wegen ihrer Ausländerfeindlichkeit, wegen ihrer Verachtung der parlamentarischen Demokratie gewählt! Es wird höchste Zeit, dass wir die Bürger*innen, die die Stimmabgabe für die AfD vollzogen haben, ernst nehmen und sie nicht mehr wie Dummerchen behandeln und damit verantwortlich machen für ihre politische Entscheidung.
Höchste Zeit, die große Gefahr zu erkennen!
Es wird höchste Zeit, dass wir die große Gefahr erkennen, von der unsere freiheitliche Demokratie bedroht ist: Zu viele Menschen haben sich in allen Bevölkerungsschichten von den Grundlagen eines zivilen Zusammenlebens, von der Menschenwürde, von gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme, von Internationalität und Vielfalt, von dem Schutz des beschädigten Lebens und von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses verabschiedet. Das ist eine der Folgen der zunehmenden Abkehr vieler Menschen von den christlichen Kirchen. Hinzu kommt in Ostdeutschland: Zu viele Menschen verstehen bis heute die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 nicht als Ergebnis der europäischen Einigung, sondern als Gründung eines eigenständigen deutschen Nationalstaates. Darum die leichtfertige Verachtung der EU, die Dexit-Stimmung und die Sehnsucht nach politischer und kultureller Abschottung.
Noch klarer und deutlicher den Rechten widerstehen
Wollen wir uns dafür in Mithaftung nehmen lassen? Ich hoffe nicht! Genau das aber würde passieren, wenn wir nun den Narrativen der Rechtsextremist*innen folgen oder ihnen nachgeben, wenn wir sozusagen deren Absichten ein bisschen glätten, übernehmen und dann meinen, Wähler*innen zurückgewinnen zu können. Das wird nicht funktionieren. Darum gibt es nur einen Weg: Zum einen müssen die demokratischen Parteien ein glaubwürdiges Politikangebot machen, um verantwortliches Mittun, Zuversicht und offene Debatte zu fördern; zum anderen müssen wir uns im Schulterschluss der demokratischen Parteien noch klarer, noch deutlicher den Rechtsradikalen widerstehen; und schließlich sind alle gesellschaftlichen Akteure aufgerufen, die Resilienz des Einzelnen zu stärken, dem allgemeinen Verdruss und der asozialen Egomanie zu widerstehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog des Autoren.
Wolfgang Zeyen
ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.
"Genau das aber würde…
"Genau das aber würde passieren, wenn wir nun den Narrativen der Rechtsextremist*innen folgen oder ihnen nachgeben, wenn wir sozusagen deren Absichten ein bisschen glätten, übernehmen und dann meinen, Wähler*innen zurückgewinnen zu können."
Dann wundert euch aber bitte nicht, wenn ihr weiteren Wählerzuspruch verliert. Die Sozialdemokraten in Dänemark hatten mit ihrer Wende hin zu einer härteren Gangart in der Migrationspolitik Erfolg. Das eine unbegrenzte, bedingungslose Migration in einen Sozialstaat nicht funktionieren kann, hat nichts mit links oder rechts zu tun sondern mit gesundem Menschenverstand.