Kultur

Dokumentarfilm „Joan Baez – I am a Noise”: Die drei Leben der Protestikone

Nicht nur im kulturellen Gedächtnis hat Joan Baez viele Gesichter. Der Dokumentarfilm „Joan Baez“ legt verborgene Seiten der Ausnahmekünstlerin offen. Ein besonderer Schatz hat dies möglich gemacht.

von Nils Michaelis · 20. Dezember 2023
Joan Baez blickt zurück

Die Sängerin und Gitarristin Joan Baez schaut zurück auf ein Leben voller Brüche und Aufbrüche.

Kultisch verehrte Pionierin des Folkrocks, international einflussreiche Streiterin für Menschenrechte, abgeklärte Singer-Songwriterin: Es gibt viele Etiketten für und Bilder von Joan Baez. Meist geht es dabei um die öffentliche Figur der jeweiligen Lebensphase der US-Musikerin und Aktivistin. Der Mensch dahinter bleibt schemenhaft. 

Der Dokumentarfilm „Joan Baez – I am a Noise“ („Ich bin ein Geräusch“) schließt so manche Lücke und präsentiert weithin unbekannte Zusammenhänge in der Biografie einer Künstlerin, die schon mit 18 Jahren zum Superstar wurde und bis heute zu den besonders aufrechten Vertreter*innen der Popkultur gezählt wird. Und er zeigt, dass es mehr als nur einer Etikette bedarf, um dieser Frau gerecht zu werden.

Der Titel des Films – zu dem Zitat gehört noch der Satz „I’m not a Saint“ („Ich bin keine Heilige“) macht es deutlich: Die mittlerweile 82-Jährige hält wenig von Schubladen und sieht sich eher als schwer greifbares Gebilde. Selbst wenn sie in den 60er-Jahren während des Kampfes gegen die Rassentrennung in den USA und gegen den Vietnamkrieg als „Stimme ihrer Generation“ gefeiert wurde und bis heute als jemand gilt, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.

Die Regisseurinnen, aber auch die Protagonistin selbst halten es eher mit einem Zitat des Schriftstellers Gabriel Maria Marquez: „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und das geheime.“ Der Film leuchtet diese drei Ebenen getrennt voneinander aus, legt aber auch Wechselwirkungen offen.

60 Jahre im Rampenlicht

Den erzählerischen Rahmen bildet die im Jahr 2019 gestartete Abschiedstournee der Grammy-Preisträgerin. Nach gut 60 Jahren auf der Bühne schien der Zeitpunkt geeignet, um auf ihr Leben und Werk zurückzublicken. Der Film nimmt die entsprechenden Fäden chronologisch auf und verfolgt sie bis in die Gegenwart. 

Baez bei einer Massendemonstration mit Martin Luther King in Washington. Baez barfuß bei einem Protestmarsch in Alabama. Baez und Bob Dylan, mit dem sie später eine unglückliche Beziehung verbinden sollte, gemeinsam auf der Bühne: Viele der aus Archivmaterial zusammengestellten Filmaufnahmen und Fotos aus dem öffentlichen Leben von Joan Baez sind uns vertraut.

Ihre vor der Kamera dokumentierten Erinnerungen offenbaren allerdings noch eine andere Ebene: Was jene Situationen und der Blick der anderen mit ihr gemacht haben. Was sie mit ihrem „privaten“ und ihrem „geheimen“ Leben zu tun hatten und wie sie mit dem Blick von heute betrachtet und (neu) erlebt. 

Realitätscheck für die Erinnerung

Die Erinnerung wird zur Gegenwart. Möglich wurde dieser Prozess nicht zuletzt durch einen besonderen Schatz, den Baez in ihrem Haus im kalifornischen Wald hortet: Tagebucheinträge, Zeichnungen und Tonbandkassetten. Darin hielt sie von frühester Jugend an fest, was sie bewegt und belastet. Wie sie sich selbst und die Welt um sie herum sieht. 

Für die Erzählung ihrer „drei Leben“ sind diese Zeugnisse von unschätzbarem Wert: Sie geben sozusagen einen Live-Einblick in ihr Seelenleben und bilden einen Realitätscheck für ihre Erinnerungsberichte. Interviews mit Wegbegleiter*innen spielen hingegen kaum eine Rolle.

Das „geheime“ Leben von Joan Baez wird dadurch überhaupt erst greifbar. Es geht um Rastlosigkeit und Missbrauchsvorwürfe in ihrer Familie, wo sie mit zwei Schwestern aufwächst. Um Depressionen und andere schwere Krankheiten. Um unverhoffte Leidenschaften oder auch Beziehungsängste sowie andere persönliche oder auch kreative Krisen. Darum, wie die inneren Kämpfe und Dämonen ihre Entwicklung als Mensch und Musikerin beeinflusst haben. 

Schonungsloser Blick

Manch einer oder eine meint vielleicht sogar, schon immer einen besonderen Ausdruck in ihrem Gesang erahnt zu haben. Dass es hinter ihrem Markenzeichen, dem glockenklaren Sopran, noch etwas anderes, schwer zu Ergründendes gibt. Ihnen könnte dieser Film als Bestätigung dienen.

Mit einem klassischen Bio-Pic, das ein bestimmtes Bild von einer Person verfolgt, oder gar einer Huldigung hat all das wenig gemein. So wie Joan Baez selbst legt sich auch der Film der Regisseur*innen Miri Navasky, Karen O’Connor und Maeve O’Boyle nicht fest, was sie sein soll oder will. Es ist ein schonungsloser Blick zurück, der immer auf die Gegenwart ausgerichtet ist. Schonungslos seitens der Filmemacherinnen, aber auch von Baez selbst.

Zugleich lebt diese ebenso empathische wie nüchterne Erzählung von dem großen Vertrauen, das bei den jahrelangen Dreharbeiten geherrscht hat. Und trotz all der düsteren Nuancen auch von einer gewissen Wärme. Ausschließlich in natürlichem Licht tritt uns eine gelöste Künstlerin gegenüber, die sich und uns nichts vormacht. Bleibt abzuwarten, was der Film mit den kollektiven Bildern von dieser unangepassten Persönlichkeit macht.

 

Info:

„Joan Baez – I am a Noise” (USA 2023), Regie und Produktion: Miri Navasky und Karen O‘Connor, Regie und Schnitt: Maeve O’Boyle, 113 Minuten.

Hier geht es zum Trailer 

Kinostart: 28. Dezember

www.alamodefilm.de

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