Doku „Unendlicher Raum“: Wie neues Leben in eine sterbende Stadt kommt
Auf den ersten Blick wirkt Loitz wie das Abziehbild einer sterbenden Kleinstadt in Ostdeutschland. Der vielschichtige Dokumentarfilm „Unendlicher Raum“ zeigt, was Menschen in Mecklenburg-Vorpommern dem Abwärtstrend entgegensetzen.
déjà-vu film
Zwei Großstadtmenschen in der Provinz: Annika Hirsekorn und Rolando Gonzalez vor ihrem neuen Domizil in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern).
In früheren Zeiten rückte das Thema vor allem rund um den Tag der Deutschen Einheit am dritten Oktober ins Bewusstsein. Seit den Wahlerfolgen der AfD erfährt es weitaus mehr Konjunktur. Gemeint ist die Frage: Wie hat sich Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung entwickelt? Nicht nur, aber auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und das demokratische Miteinander, zumal abseits der Metropolen?
Carsten Schneider, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, wies bei der Vorstellung seines Jahresberichts dieser Tage darauf hin, dass der Bedarf an zivilgesellschaftlichen Projekten in den östlichen Bundesländern hoch sei. Mit dieser Erkenntnis ist er nicht allein.
Wer ostdeutsche Verhältnisse, wenngleich unter extremen Bedingungen, in einer Mikroperspektive betrachten möchte, sollte einen Blick auf Loitz werfen. Seit dem Ende der DDR verlor das Städtchen südwestlich von Greifswald ein Drittel seiner Einwohner. Bis zum Jahr 2030 wird es wohl die Hälfte sein.
Menschen füllen die Leere mit Ideen
Strukturen zerbrachen, Menschen gingen und nur wenige kehrten zurück. Einige von ihnen versuchen, dem Sterben ihrer Stadt auch Chancen abzugewinnen und die Leere mit Ideen und Engagement zu füllen. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Unendlicher Raum“.
Eigentlich wollten Annika Hirsekorn und Rolando Gonzalez nur für ein Jahr in dem gut 4.200 Einwohner*innen zählenden Ort an der Peene bleiben. Während der Corona-Zeit haben sie den Zuschlag für ein „Leuchtturmprojekt“ bekommen. In einem heruntergekommenen Haus sollte das Berliner Paar gemeinsam mit den Loitzer*innen einen Begegnungsort schaffen. Dafür wohnten die beiden kostenlos und bezogen ein Grundeinkommen. Aus diesem zeitlich begrenzten Vorhaben wurde am Ende viel mehr.
So erging es auch Regisseur Paul Raatz. Von Anfang an war er mit der Kamera dabei. Anfangs ging es nur um ein Werbevideo über das Projekt von Hirsekorn und Gonzalez. Daraus entwickelte sich ein Porträt einer Stadt und ihrer Menschen. Was treibt sie an, sich komplizierte Unterfangen aufzuhalsen? Welche Träume oder Sehnsüchte haben sie? Was bedeutet ihnen Heimat? Was hält sie in Loitz oder was trieb sie dorthin zurück?
Klischees werden widerlegt
In seinem Dokumentarfilmdebüt kehrt der in Stralsund aufgewachsene Raatz immer wieder zu Hirsekorn und Gonzalez zurück. Wie nähern sich Zugezogene und Einheimische einander an? Wie entsteht Vertrauen? Raatzs behutsame Beobachtungen strafen so manche Klischees über abgehängte Orte im Osten Lügen.
Auch das Tableau der Auftretenden bietet so manche Überraschung. Wir lernen einen Klangkünstler kennen, der mit viel Mühe und Liebe einen kulturellen Ankerpunkt in einem früheren Ballhaus am Leben erhält. In seinem Tonstudio auf dem Dachboden feilt ein Familienvater an einer Karriere als Sänger melancholischer Schlager.
Musikfans aus der Region versuchen, einer leerstehenden Fabrik mit einem Festival neues Leben einzuhauchen. Doch die bürokratischen Hürden sind höher als gedacht. Und ein paar Jugendliche pflegen und genießen ihren Treffpunkt, den sie in Eigenregie in einem Garten aufgebaut haben.
Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich mit der im mehrfachen Sinne greifbaren Leere ihres vom demografischen und wirtschaftlichen Wandel besonders brutal getroffenen Lebensmittelpunktes nicht abfinden wollen.
Dennoch ist „Unendlicher Raum“ alles andere als ein Wohlfühlfilm. Nicht nur, weil die Intentionen der Engagierten unterstreichen, wie sehr das soziale Gefüge in ihrer Heimat auf der Kippe steht. Tristesse und Verfall sind allgegenwärtig, etwa in Bildern menschenleerer, von verfallenen Häusern gesäumten Straßen oder auch von gnadenlosen Abrissbaggern. Rechtsextreme Schmierereien belegen, dass in Loitz auch Ideenwelten jenseits von Vielfalt und Kunstsinn heimisch sind.
Die Engagierten bekommen eine Stimme
„Unendlicher Raum“ lebt von einer Vielzahl an Perspektiven und vermeidet einfache Antworten. Er gibt Menschen eine Stimme, die ihre Stadt nicht als „Verlierer*innenort“ abgestempelt sehen wollen. Das macht den Reiz dieses Films aus, der im Wettbewerb des Filmfestivals Max Ophül Preis lief.
Der sich über zwei Jahre erstreckende Erzählfaden wirkt eher intuitiv als klar strukturiert: Offenbar ließ sich Raatz von seinen Erfahrungen vor Ort treiben. Er selbst nennt es eine „Erkenntnisreise“, die auch mit einigen persönlichen Vorurteilen gegenüber dem ländlichen Raum aufgeräumt habe.
Zuschauenden kann während dieser „Reise“ die Orientierung ausgehen, mitunter wäre mehr Fokussiertheit wünschenswert gewesen. Dennoch ist dieser Blick auf Menschen, die in einer sterbenden Stadt Sinn suchen, finden oder stiften, äußerst lohnend.
„Unendlicher Raum“ (Deutschland 2024), ein Film von Paul Raatz, 95 Minuten, FSK ab zwölf Jahre
Kinostart: 3. Oktober