Woher kommt die Wut von Frankreichs Jugend?
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Nachdem am 27. Juni der 17-jährige Nahel bei einer Polizeikontrolle in Nanterre bei Paris ohne erkennbaren Anlass erschossen wurde, brachen landesweit heftige Unruhen aus. Besonders betroffen waren die Vorstädte rund um Paris, aber auch die „Banlieues“ von Marseille, Lyon, Toulouse und anderen Großstädten erlebten eine beispiellose Welle brachialer Gewalt. Tausende Autos und Busse wurden abgefackelt, hunderte Geschäfte geplündert, Schulen, Bibliotheken und Rathäuser in Brand gesetzt. Jede Nacht wurden bis zu tausend junge und sehr junge Männer vor allem wegen Waffenbesitzes festgenommen.
Armut und Perspektivlosigkeit reichen nicht als Erklärung
Die Koppelung von Gewaltbereitschaft und sozialer Perspektivlosigkeit ist ein altbekanntes Phänomen, das sich nicht auf Frankreich beschränkt. Auch dassGewalttäter weit überdurchschnittlich junge bis sehr junge Männer sind, ist keine französische Besonderheit. Dennoch stellt sich die Frage, warum der französische Staat nicht hinreichend in Bildung und soziale Projekte in eben diesen Vierteln investiert. Obwohl der Wiederaufbau von abgebrannten Straßenzügen und Bauten nach solchen Gewaltexzessen teurer wird, als vorher die Bildung verbessert zu haben.
Doch erklären Armut und Mangel an Perspektive weder das Ausmaß der Gewalt noch die Größe der Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen im Netz zu den Gewalttaten verabreden. Sie erklären noch weniger, wie es zu Mordanschlägen auf völlig Unbeteiligte kommt. Etwa in L’Hay-les-Roses, einer Kleinstadt zehn Kilometer südlich von Paris, wurde das Wohnhaus und die Familie des Bürgermeisters Vincent Jeanbrun angegriffen. Die Täter brachen mit einem Auto durch das Tor des Grundstücks, rammten den Eingang und legten dann Feuer. Als die Ehefrau mit ihren Kindern durch den Garten floh, wurden sie mit Feuerwerkskörpern beschossen und verletzt.
Macrons Maßnahmen haben bisher wenig gebracht
Seit 1977 wurden zehn Aktionspläne für sozial benachteiligte Viertel aufgelegt. Präsident Macron selbst verfügte 2018 in seiner ersten Amtszeit, in besonders schwierigen Gegenden die Größe der Grundschulklassen zu halbieren. Er verdoppelte das Budget zur Renovierung maroder Gebäude und ließ Kurse finanzieren, die Selbstständigkeit fördern sollten.
Gebracht haben diese Maßnahmen offensichtlich wenig, sagen jetzt Kritiker*innen. Aber selbst die jüngsten Gewalttäter der vergangenen Woche waren mehrheitlich vor fünf Jahren der Grundschule bereits entwachsen. Ihre Wut ist älter, speist sich aus der sich permanent wiederholenden Erfahrung, dass ein „Driss“ oder „Brahim“ weder in der Schule noch auf dem Arbeitsmarkt Chancen hat. Der Hass wird verstärkt, weil in Frankreich Jahr für Jahr ein bis zwei Dutzend nicht-weißhäutige junge Männer durch Polizeikugeln sterben, ohne das irgendein Grund dafür vorliegt. Und so gut wie nie wird der Beamte dafür zur Rechenschaft gezogen.
Eine Prämie für die Tat?
Dazu passt, dass eine Spendenaktion des zur rechtsextremen Rassemble National (RN) gehörenden Jean Messiha für den Polizisten, der Nahel erschossen hat, hat in zwei Tagen mehr als eine Million Euro erbracht – fünf Mal mehr als die Spendensumme für die Familie des Getöteten. Zur Begründung erklärte Messiha, „der Polizist habe nur seine Arbeit getan hat und nun einen hohen Preis zu zahlen“. Für die Menschen in den Vororten klingt das nicht nur nach vorsorglichem Freispruch, sondern nach einer Prämie für die Tat.
Dennoch rief die Großmutter des getöteten Jungen die randalierenden Jugendlichen auf, die Gewaltorgien zu beenden und den Tod ihres Enkels nicht länger zu instrumentalisieren. „Ihr brennt eure Schulen ab, zündet die Busse an, mit denen wir zur Arbeit fahren. Wem soll das nützen?“
Drei Gruppen Randalierer
Doch wer sind die Randalierer? Drei unterschiedliche Gruppen bilden das Gros der demonstrierenden Jugendlichen. Die größte, nach Alter und Geschlecht heterogenste, erlebt die Randale als Happening. Man verabredet sich im Internet. Dort filmt man sich auf dem Handy, um später die Selfies vor brennenden Autos oder Gebäuden ins Netz zu stellen. Dabei sein ist alles. An der Gewalt selbst sind sie nur insofern beteiligt, als sie diese für normal und gerechtfertigt halten. Ihr Verhalten ist im wesentlichen Ausdruck von sozialer Inkompetenz und dem Gefühl, „uns doch egal“.
Plünderer sind die zweite Gruppe. Sie attackieren bestimmte Geschäfte. Zuerst zum Spaß und zur „Einbindung der anderen durch Versorgung“: Supermärkte und Getränkeshops. Und dann werden gezielt die eigentlichen Ziele angegangen: Boutiquen mit angesagter Bekleidung, Handy- und Apple-Stores – organisierter Diebstahl im Schatten der Manifestationen.
Die dritte Gruppe stellen die sogenannten „casseures“. Für sie ist Gewalt das Ziel. Zerstörung, Angriffe auf Polizeistationen, Rathäuser und inzwischen auch Menschen der Zweck ihrer Aktionen. Es sind beileibe nicht nur Jugendliche aus den prekären, sozial abhängten Vierteln der Banlieues. Diese marodierenden Gewalttäter und Hooligans stammen zu guten Teilen auch aus bürgerlichen Quartieren. Sie agieren in bestens organisierten Kleingruppen. Zum Teil ist ihr Antrieb die pure, rohe Gewaltanwendung, aber die Übergänge zur Alt-Right-Bewegung und Identitären sind fließend. Hier geht es darum, den Regimewechsel herbeizuzündeln.
Die extreme Rechte versucht zu profitieren
Doch der französische Innenminister Darmanin irrt, wenn er glaubt, es reiche mit 45.000 schwer bewaffneten Polizist*innen, die Nacht für Nacht Dienst tun, die Ruhe dauerhaft wiederherstellen zu können. Die Gewalt muss beendet werden, aber eine echte Lösung der Probleme kann auch die massivste Polizeipräsenz nicht bieten.
Ebenso wenig die Mär, die die extreme Rechte nun europaweit streut, die Gewalt ginge zum einen von „arbeitsscheuen Drogendealer-Banden“ und zum anderen von islamischen Migranten aus. Das soll lediglich staatliche Gegengewalt rechtfertigen, „Auskärchern der Banlieue“ wie es 2005 der damalige Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy nannte.
Beides ist nachweislich falsch. Es handelten sich bei Demonstranten und verhafteten Randalierern fast ausschließlich um französische Staatsbürger, die im Land geboren und hier das Schulsystem durchlaufen haben. Nicht die Ideologie des Dschihad treibt ihre mörderische Wut, sondern ihre Enttäuschung über Frankreich.
Ausgrenzung ist Alltag
Man kann sie nicht ausweisen – wie die politische Rechte fordert – denn es sind französische Staatsbürger, die sich im System und der Gesellschaft nicht widerfinden, nicht erkennen können, dass die propagierten demokratischen Werte auch für sie gelten. Und dieses Gefühl beherrscht die übergroße Mehrheit der nichtweißen Jugendlichen. Für sie ist Ausgrenzung Alltag. Und das in allen sozialen Schichten, nicht nur in den Vorstädten.
Nanterre ist im Übrigen kein „sozialer Brennpunkt“, wie es gerne suggeriert wird. Die alte Stadt mit 100.000 Einwohner*innen beherbergt eine der größten und wichtigsten Universitäten von Paris, ist kleinbürgerlich und durch Industriearbeiterschaft geprägt. Und auch diese Jungmänner randalieren auf den Straßen. Sie teilen den Eindruck, ausgegrenzt und ins Abseits geschoben worden zu sein. Auch sie sehen wenig Perspektiven für ihr Leben.
Das ist die Frage, die Präsident Macron und seine Regierung sich stellen muss, aber auch die gesamte Gesellschaft: Wie sollen realistische Zukunftsperspektiven für eine ganze Generation aussehen? Wie den Jugendlichen klarmachen, dass es sich nicht um Sonntagsreden, sondern um echte und begehbare Wege handelt. Werden diese Fragen nicht beantwortet, ist der nächste Aufstand nur eine Frage von Zeit und Anlass.