Parlamentswahl in Polen: Warum Tusks Sieg auch Europa Hoffnung gibt
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Es ist ein guter Tag für die Demokratie in Polen, für die Chance auf einen Neustart für die kriselnden deutsch-polnischen Beziehungen und für die Chance für ein reformfähiges Europa. Deutlicher als erwartet ist die Parlamentswahl in Polen für die Oppositionsparteien ausgegangen. Die bisher regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bleibt zwar stärkste Kraft, kann jedoch keine Mehrheit bilden. Die rechts-populistische „Konfederacja“ bleibt weit hinter ihren Umfragewerten zurück. Nach vorläufigen Ergebnissen vom Wahlabend haben die drei Oppositionsparteien aus der Bürgerkoalition von Donald Tusk, der sozialdemokratischen „Lewica“ und dem „Dritten Weg“ eine Mehrheit aus 248 von 460 Sitzen im Sejm. Dieser Vorsprung ist zu groß, als dass die PiS durch Verhandlungsgeschick und Fraktionsübertritte noch eine eigene Mehrheit oder eine Minderheitsregierung zusammensetzen könnte. Polen steht vor einem Regierungswechsel, die Bürgerkoalition von Donald Tusk wird die neue Regierung anführen, die Sozialdemokrat*innen werden einer der drei Koalitionspartner sein.
Chance für einen deutsch-polnischen Neuanfang
Der neuen Regierung stehen große Herausforderungen ins Haus. Polen liegt im Streit mit der EU-Kommission um die Freigabe der Mittel aus dem Corona-„Recovery Fund“, dazu müssen Meilensteine zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit erreicht werden. Darüber hinaus stellt die Reparatur des Rechtssystems in Polen eine langwierige und schwierige Aufgabe dar. Die Beziehungen zum westlichen Nachbarn und größten polnischen Handelspartner, Deutschland, haben in der Regierungszeit der PiS stark gelitten, das deutsch-polnische Verhältnis steckt in einer tiefen Krise. Im Oktober 2022 wurden Reparationsforderungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro für die Kriegsschäden im Zweiten Weltkrieg erhoben. Mit der neuen Regierungskoalition bietet sich nun die Chance auf einen Neuanfang.
Doch die Anwürfe der PiS, Donald Tusk sei eine Marionette deutscher Interessen, werden nicht nachlassen und seinen Handlungsspielraum einschränken. Doch auch von deutscher Seite bietet sich nun die Möglichkeit, mit mehr Empathie und der Chance auf eine positive Antwort auf die neue polnische Regierung zuzugehen. Schließlich waren zuletzt Spannungen zwischen Polen und der Ukraine zu Tage getreten, obwohl Polen der Ukraine eigentlich als verlässlicher Partner in uneingeschränkter Solidarität zu Seite steht. International waren die Worte des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki gar als Stopp polnischer Waffenlieferungen in die Ukraine aufgefasst worden. Hier lassen sich die Scherben des erratischen und aggressiven PiS-Wahlkampfs sicherlich am leichtesten zusammenkehren, denn eine Abkehr von der Solidarität mit der Ukraine liegt keinesfalls im strategischen Interesse Polens.
Für die Reformfähigkeit Europas kann der Wahlsieg der Opposition in Polen ein echter Game-Changer sein. Mit Emmanuel Macron in Paris, Olaf Scholz in Berlin und – künftig – Donald Tusk in Warschau gibt es die Chance auf eine europäische Spitzengruppe, die Reformen in der EU vorantreiben kann. Mit diesen drei großen und bevölkerungsreichen Ländern wären alte und neue, östliche und westliche und zudem die drei wichtigsten Parteienfamilien der Liberalen, Konservativen und Sozialdemokrat*innen vereint. Ungarn, als wichtigster Gegenspieler, wäre weitgehend isoliert. Gewiss sollte man sich von derartigen blau-goldenen Europa-Träumen nicht benebeln lassen, doch die Chance auf eine Bewegung in den festgefahrenen Debatten ist allemal vorhanden. Eine weitere Amtszeit der PiS hingegen hätte die Versteinerung dieser Pläne zur Folge gehabt.
Neue Regierung noch vor Weihnachten
Noch vor der Weihnachtspause ist mit der Bildung einer Regierungskoalition unter Führung der Bürgerplattform gemeinsam mit der „Lewica“ und dem „Dritten Weg“ zu rechnen. Doch in den nächsten Wochen wird es noch einige Störsignale auf diesem Weg geben können. Innerhalb von 30 Tagen muss sich das neue Parlament konstituieren und einen Parlamentspräsidenten wählen. Die überraschend klaren Mehrheitsverhältnisse sollten alle Versuche der PiS ins Leere laufen lassen, durch Ziehen und Drängen ihre Fraktionsgemeinschaft zu vergrößern, so dass sich bei der Konstituierung des Parlaments erstmals die neue absolute Mehrheit der drei Koalitionspartner zeigen wird.
Danach liegt es bei Präsident Andrzej Duda, einen Ministerpräsidenten zu designieren, der daraufhin innerhalb von zwei Wochen das Vertrauen für sich und sein Kabinett im Parlament erhalten muss. Es ist gut möglich, dass der Präsident diesen Auftrag zunächst an die größte Fraktion, also an die PiS – aller Wahrscheinlichkeit nach an den bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki – erteilen wird. Erst nach dessen Scheitern liegt das Vorschlagsrecht für einen Ministerpräsidenten im Parlament. Sehr wahrscheinlich wird dann bis zu zwei Wochen später Donald Tusk mit seinem Kabinett zu Wahl stehen und die Mehrheit der Regierungskoalition erhalten. Nach diesem Drehbuch könnte es also Mitte Dezember werden, bevor die neue Mehrheit in Polen sich auch in einer neuen Regierung wiederfindet.
Polen bleibt gespalten
Das Wahlergebnis in Polen zeigt deutlich, wie gespalten das Land ist: Die PiS dominiert im Osten Polens sowie auf dem Lande, während im Westen und in den urbanen Zentren die Opposition stärker abgeschnitten hat. Die Gegensätze zusammenzuführen und Polen zu einen, wird eine der größten Herausforderungen für die nächste Regierung sein. Und trotz des Erfolges der Opposition ist die PiS von Jarosław Kaczyński nach den Wahlen 2015 und 2019 mit 36,6 Prozent der Stimmen nun zum dritten Mal stärkste Kraft geworden und erhält wohl 198 Sitze.
Ausschlaggebend für ihren Erfolg war bislang, dass sie über ihre Kernklientel hinaus mit dem Versprechen von Sozialtransfers (Wahlen von 2015) und deren erfolgreicher Einführung (Wiederwahl 2019) breite Wählerschichten für sich einnehmen konnte. Die hohe Inflation und schwindende verfügbare Einkommen haben diese Erfolge für viele Pol*innen zunichte gemacht. So konnte die PiS zwar ihre eiserne Stammwählerschaft mit nationalistischen, anti-deutschen und gar ukraine-kritischen Botschaften ansprechen, darüber hinaus aber nicht genügend ausstrahlen.
Sozialdmokraten vor Einzug in die Regierung
Der eigentliche Sieger des Abends ist die Bürgerplattform „Koalicja Obywatelska“ von Donald Tusk. Sie knackte mit 31 Prozent die 30-Prozent-Marke, wird voraussichtlich 161 Sitze erhalten und wird die nächste Regierungskoalition anführen. Mit sozialpolitischen Angeboten konnte sie ihr neo-liberales Image bemänteln und hat sich als Anführer einer Anti-PiS-Koalition profiliert. Mit zwei Großdemonstrationen am 4. Juni und 1. Oktober 2023 konnte sie jeweils mehrere hunderttausend Bürger*innen auf die Straße bringen, um für eine Abwahl der PiS zu demonstrieren. Ihr Erfolg liegt in der Mobilisierung vieler Nicht-Wähler*innen. Die Wahlbeteiligung war mit 72,9 Prozent höher als bei allen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen in Polen zuvor, selbst bei der Wahl 1989 lag sie bei nur 62,7 Prozent.
Die wahrscheinliche Koalitionspartner*innen der Bürgerplattform haben gemischte Ergebnisse erziehlt. Überraschend stark schnitt der „Dritte Weg“ („Trzecia Droga“, 3D) ab, er errang 13,5 Prozent (57 Sitze). Als Parteienbündnis aus der pragmatisch-konservativen Partei „Polska 2050“ des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Szymon Hołownia und der ehrwürdigen polnischen Bauernpartei PSL galt für 3D eine erhöhte Eintrittshürde von acht Prozent, die nun locker übersprungen wird. Ein Scheitern hätte die Erfolgschancen der Oppositionsparteien höchstwahrscheinlich zunichte gemacht. Es ist davon auszugehen, dass viele Wähler*innen deshalb auch aus taktischen Gründen 3D gewählt haben. Zudem hat die Bauernpartei offenbar eine verlässliche Stammwählerklientel auf dem Lande.
Das Ergebnis für die sozialdemokratische „Lewica“ fiel hingegen schwächer aus als erhofft, mit 8,6 Prozent der Stimmen und 30 Sitzen bleibt sie hinter ihrem Ergebnis von 2019 zurück. Nach 18 Jahren kann sie jedoch wieder Teil einer Regierungskoalition werden, denn ohne Beteiligung der „Lewica“ wird es keine Koalition gegen die PiS geben. Das überstrahlt das schwache Abschneiden. Erfolgreich war die „Lewica“ vor allem bei jüngeren Wähler*innen und Frauen. Sie hat sich im Wahlkampf mit konkreten Politikangeboten profiliert. Am Ende wurde sie offenbar Opfer vieler taktischer Wähler*innen für die 3D und des in der Öffentlichkeit stärkeren Zugspferds und Oppositionsführers, der Bürgerplattform.
Große Enttäuschung bei den Rechten
Die größte Enttäuschung hatten die Rechtspopulist*innen der „Konfederacja“ zu ertragen. Nach Höhenflügen in den Umfragen von mehr als 15 Prozent im Juli 2023, landeten sie nun hart bei lediglich 6,4 Prozent und 14 Sitzen. Sie können damit nicht die erhoffte Rolle als Königsmacher einnehmen und der PiS Bedingungen für eine Mehrheit im Sejm oder auch nur eine Minderheitsregierung diktieren. Neben einem rechtsradikalen, nationalistischen Kern hatte die „Konferdracja“ vor allem mit neo-liberalen Botschaften gepunktet, zum Beispiel der Einführung einer Flat-Tax. Gewählt wurde die Partei vor allem von jungen Männern. Der Absturz der „Konfederacja“ bei diesen Wahlen wirft viele Fragen auf, auch über Polen hinaus. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich aus diesen polnischen Parlamentswahlen ein Patentrezept erlernen lässt, wie man die Rechtspopulist*innen in ganz Europa entzaubern kann.
Gleichzeitig mit den Wahlen wurde von der PiS-Regierung ein Referendum abgehalten, bei dem vier tendenziös formulierte Fragen beantwortet werden konnten zum „Ausverkauf des Staatsbesitzes“ zur Anhebung des Rentenalters, zum Abbau der Grenzbarriere zu Belarus und der „Aufnahme tausender illegaler Immigranten“. Das suggerierte vierfache „Nein“ haben aber längst nicht alle Wähler*innen verlauten lassen, die Beteiligung liegt mit circa 40 Prozent unterhalb des Quorums. Das Referendum wird also keine bindende Wirkung haben. Ergebnisse für die gleichzeitig durchgeführten Wahlen für die zweite Kammer, den Senat, liegen noch nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass die dort bereits bestehende Mehrheit gegen die PiS deutlich ausgebaut werden konnte. Vor der zukünftigen Regierung liegen nun große Aufgaben – aber auch die Chance, ein demokratisches Signal durch Polen hindurch in die EU zu senden.
Zuerst erschienen im IPG-Journal.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau. Zuvor war er Leiter des FES-Büros in Belgrad.