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Türkei: Kann die Opposition Istanbul erneut gewinnen?

Bei den türkeiweiten Kommunalwahlen im März 2024 sind alle Augen auf Istanbul gerichtet. Der oppositionelle Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu hat Chancen wiedergewählt zu werden – auch wenn ihm diesmal ein breites Bündnis fehlt. 

von Kristina Karasu · 11. Januar 2024
Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu

Istanbuls amtierender Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu tritt im März bei den Kommunalwahlen wieder an

Ein halbes Duzend Schirme schießen in die Höhe, als der Ekrem Imamgolu aus dem Gebäude tritt. Parteikollegen und Anhänger bemühen sich eifrig, damit der Istanbuler Oberbürgermeister trocken durch den eisigen Regen kommt. Sie behandeln ihn so ehrfürchtig, als sei er ihr kostbarster Schatz, während Imamoglu gut gelaunt herzliche Worte für jeden findet. 

Ekrem Imamgolu ohne Bündnis der Opposition

Er ist zu der Eröffnung eines neuen Kulturzentrums im Istanbuler Stadtteil Ataköy gekommen, seine Stadtverwaltung hat hier eine Schießpulverfabrik aus osmanischen Zeiten aufwendig renoviert und darin eine Bibliothek, ein Museum, einen Konzertsaal und ein Cafe errichtet. Viele solche kulturellen Projekte hat Imamoglu in seiner bald fünfjährigen Amtszeit realisieren lassen, doch heute ist die Kultur nur Nebensache. Vielmehr dreht sich alles um die anstehenden Kommunalwahlen in Istanbul. Zwei Tage zuvor hat Präsident Erdogan als Gegenkandidaten seinen Ex-Bauminister Murat Kurum präsentiert. Imamoglu gibt sich gelassen und vergleicht das Rennen mit einem Marathon: „Es ist mir egal, wer hinter mir läuft, ich werde weiterlaufen und auf die Rekorde schauen, die ich noch brechen werde“, sagt er selbstbewusst lächelnd ins Mikrofon.

Als Imamoglu 2019 überraschend zum Oberbürgermeister der 16-Millionen-Metropole Istanbul gewählt wurde, galt er als die große Hoffnung der türkischen Opposition, wurde schon als nächster Präsident gehandelt. Er selbst stammt aus der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, und wurde 2019 von einem breiten Bündnis von Oppositionsparteien getragen. Doch dieses Bündnis zerbrach nach den Präsidentschaftswahlen im letzten Frühjahr, Imamoglu kann darauf nicht mehr zählen. Ob Imamoglu trotzdem Chancen hat wiedergewählt zu werden, ist schwer abzusehen. 

Kontroverse Bilanz

Bei vielen Bürgern genießt er Sympathien, er ist redegewandt, charismatisch und verfügt über einen natürlichen politischen Instinkt. Zudem schafft er es, liberale ebenso wie konservative und kurdische Wähler anzusprechen, gilt als Mann der Mitte. Seine Bilanz in Istanbul allerdings wird kontrovers diskutiert. Die einen rühmen seine Verdienste für das kulturelle Leben der Stadt, den Ausbau vieler Metrolinien und seine zahlreichen sozialen Projekte wie etwa kostenlose Milch und Brot für einkommensschwache Familien, kostenlosen Nahverkehr für Mütter kleiner Kinder und den Bau neuer Kindergärten und Studentenwohnheime. Die Touristenzahlen haben im letzten Jahr einen Rekordwert erreicht; ein Anzeichen dafür, dass die Stadt ihr Image unter Imamoglu verbessern konnte.

Viele andere Istanbuler*innen finden hingegen, dass es Imamoglu nicht gelungen ist, die dringendsten Probleme der Stadt zu lösen. Er sei vielmehr ein Showman, der viel Reklame betreibe, aber nur wenig bewirkt habe, ist eine viel zu hörende Meinung. Tatsächlich ist der Istanbuler Verkehr weiterhin höllisch, die Armut in den letzten Jahren enorm angestiegen und erdbebensicher umgebaut ist die Stadt noch lange nicht. Das sind freilich Mammutaufgaben, die sich nicht in wenigen Jahren lösen lassen. Dazu kommt, dass die Zentralregierung in Ankara immer wieder bewusst den Geldhahn zudrehte, um Imamoglu als unfähig und faul diffamieren zu können.

Der Gegenkandidat: Murat Kurum

Seinen Gegenkandidaten Murat Kurum präsentiert Erdogan nun als Macher, der all diese Probleme mit voller Unterstützung aus Ankara schnell lösen könne. Von 2018 bis 2023 war Kurum Minister für Umwelt, Städtebau und  Klimawandel. Das ist eines der mächtigsten Ministerien der Türkei, schließlich setzt die Wirtschaft unter Erdogan vor allem auf den Bausektor. Zuvor leitete Kurum unter anderem die staatliche Baubehörde TOKI, pflegt enge Kontakte zum Präsidentenpalast, zur Baubranche ebenso wie zu in- und  ausländischen Investoren. In einer aktuellen Videobotschaft verkündete er: „Wir werden uns gemeinsam daran machen, das Chaos und die Unordnung in ebenso wie die Erdbebenangst unseres Volkes zu beseitigen.“ 

Beim Thema Erdbebensicherheit ist Kurums Zeugnis allerdings ambivalent. Bei den verheerenden Erdbeben am 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei bewiesen die TOKI-Gebäude in der Region ihre Standfestigkeit, nahmen nur wenig Schaden. Andererseits verabschiedete Kurum in seiner Zeit als Minister eine Bauamnestie, die nachträglich illegale Gebäude legalisierte. Viele dieser Häuser stürzten bei den Beben vor einem Jahr ein und sorgten für tausende von Todesopfer.

Erdogan oder Opposition wählen?

Am Sonntag verkündete der türkische Präsident Recep Erdogan die Kandidaten seiner Partei für die Kommunalwahlen  in einer pompösen Zeremonie. Kandidat Kurum redet dort kaum – der Präsident hingegen umso mehr. Der wahre Kandidat, mit dem Imamoglu konkurrieren muss, scheint Erdogan. Auch in vielen anderen Städten hat Erdogan statt profilierter Politiker eher Technokraten wie Kurum aufgestellt, beobachtet der Journalist Murat Yektin. Sie gelten als fleißig, loyal zu Erdogan und können ihm kaum gefährlich werden. Sonderlich charismatisch und mitreißend ist Kurum allerdings nicht.

Ob die Bürger*innen solche Kandidaten bevorzugen oder doch eher Vollblutpolitiker wie Imamoglu, ist schwer abzusehen. Für viele oppositionelle Wähler wird letztlich entscheidend sein, ob sie Erdogan und seinen Gefolgsleuten die ganze Macht im Land überlassen wollen.

Bis zu einem euphorischen Wahlkampf ist es allerdings noch ein weiter Weg. Breite Bevölkerungsschichten ächzen unter der Hyperinflation, die im letzten Jahr offiziell beim 64,77 Prozent lag und Anfang des Jahres ernorm an Fahrt aufgenommen hat. Viele Bürger*innen sind von der Politik zutiefst enttäuscht, fühlen sich von niemandem wirklich repräsentiert. Diese Menschen bis zu den Wahlen im März zu motivieren, wird für beide Seiten die wahre Herausforderung.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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1 Kommentar

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Do., 11.01.2024 - 09:35

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