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Was das Urteil gegen İmamoğlu für die türkische Opposition bedeutet

Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde am Mittwoch wegen angeblicher Beleidigung der Wahlbehörde zu 2 Jahren und 7 Monaten Haft verurteilt, ihm droht ein Politikverbot. Die türkische Opposition zeigt sich entsetzt – und geeint wie selten.
von Kristina Karasu · 15. Dezember 2022
Will nicht aufgeben: Ekrem İmamoğlu zeigte sich nach der Verkündung des Urteils gegen ihn vor Anhänger*innen kämpferisch.
Will nicht aufgeben: Ekrem İmamoğlu zeigte sich nach der Verkündung des Urteils gegen ihn vor Anhänger*innen kämpferisch.

Die 16-Millionen-Metropole, deren Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu am Mittwoch zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verureilt wurde, zeigt sich am Morgen danach hektisch, aber müde und stumm. Viele Istanbuler*innen wollen öffentlich nicht über das Urteil sprechen, manche kennen es noch gar nicht, denn die überwiegend regierungstreuen Medien haben es nur als Kurzmeldung gebracht. Eine Frau mittleren Alters äußert sich nur anonym: „Es ist ein absolut ungerechtes Urteil, ich werde dagegen heute protestieren gehen. Ich bin wütend, ärgerlich.“ Trotzdem macht sie sich keine Sorgen: „Die Erdoğan-Regierung wird bei der nächsten Wahl 2023 mit großem Stimmenunterschied abgewählt!“ Auch der 66-jährige Nail Üstün, ein erklärter İmamoğlu-Fan, ist zuversichtlich: „İmamoğlu wird nichts passieren, er wird seinen Weg unbeirrt weiter gehen!“

„Eine große Angst“ der Erdoğan-Regierung

Diesen Eindruck wollen auch İmamoğlu, seine Partei CHP und Bündnispartner erwecken. Am Abend des Urteils sprach İmamoğlu vor dem Istanbuler Rathaus auf einem Wahlkampfbus zu Bürger*innen, die zu seiner Unterstützung gekommen waren. Er nannte das Urteil einen „Skandal“ für die türkische Justiz, kündigte an, sein Amt fortzuführen. Gekommen war auch Merel Akşener, wortstarke Führerin der mitte-rechts orientierten iyi-Partei, wichtigster Bündnispartnerin der CHP, sie umarmte den Bürgermeister und verkündete, hinter dem Urteil stecke „eine große Angst“ der Erdoğan-Regierung. Für den Donnerstagnachmittag ist eine weitere Solidaritätsveranstaltung vor dem Rathaus geplant, alle sechs Führer des Oppositionsbündnisses haben sich angekündigt. Sollte das Urteil zum Ziel gehabt haben, die Opposition zu zerschlagen, so hat es bisher genau das Gegenteil erreicht.

Lauter als die türkische reagierte die internationale Öffentlichkeit auf das Urteil. Das Auswärtige Amt in Berlin schrieb noch am Abend auf Twitter, das Urteil sei ein herber Rückschlag für die Demokratie. Diese lebe vom politischen Schlagabtausch. „Gerade in Wahlkampfzeiten ist die Freiheit des Wortes die wichtigste Richtschnur für einen fairen Wettbewerb“, so der Tweet.

Hoffnungsträger der Opposition

İmamoğlu von der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, ist für die türkische Opposition eine besondere Figur. Er gewann im Frühjahr 2019 die Istanbuler Kommunalwahl mit hauchdünnem Vorsprung, auf Druck der Erdoğan-Regierung wurde die Wahl anschließend annulliert und wiederholt. Beim zweiten Mal gewann İmamoğlu mit deutlichem Vorsprung, wurde zum großen Hoffnungsträger der Opposition erklärt und viele sahen in ihm schon den nächsten Präsidenten. Dreieinhalb Jahre später ist İmamoğlu für viele Oppositionelle hinter den großen Erwartungen zurückblieben, trotzdem gilt er immer noch als einer der aussichtsreichen Kandidaten für die Wahlen im Juni 2023. Die meisten Umfragen zeigen ihn vor Präsident Erdoğan. Doch sollte sein Urteil rechtskräftig werden, wird İmamoğlu für die Dauer der Strafe mit einem Politikverbot belegt. Hier ist jetzt der Zeitpunkt entscheidend.

İmamoğlus Anwälte haben Berufung eingelegt, danach geht das Urteil noch zum Verfassungsgericht. Bis zu einem abschließenden Urteil würde unter normalen Bedingungen noch mindestens ein Jahr vergehen. Doch in der heutigen Türkei ist wenig normal. Würde sein Urteil vor den Wahlen im Juni 2023 fallen, könnte er nicht als Kandidat antreten. Der CHP-Parlamentarier Gürsel Tekin hält das für sehr wahrscheinlich: „Auch wenn sich viele noch an die Hoffnung klammern, die Berufung würde die Strafe zurücknehmen, so glaube ich, dass die höheren Gerichte das gleiche Urteil fällen werden.“ Zwar dürfte İmamoğlu kaum ins Gefängnis wandern, weil Strafen unter drei Jahren derzeit nicht abgesessen werden müssen. Das Politikverbot würde allerdings zu einem Machtwechsel in Istanbul führen: die Mehrheit im Stadtparlament liegt bei Erdoğans AKP, sie würde İmamoğlus Nachfolger bestimmen. „Das ist es, was die Regierung tatsächlich interessiert.“ Denn in Istanbul hätte die AKP sich jahrelang persönlich bereichert, das wollen sie nun wieder erreichen, so Tekin.

Einiges erinnert an Erdoğans eigenes Schicksal

Kaum jemand in der Türkei zweifelt an, dass dieses Urteil politisch motiviert ist. Schon die Anklage mutet absurd an: İmamoğlu wird der Satz „Der, der die Kommunalwahlen 2019 wiederholen ließ, war ein Idiot“ zu Last gelegt. Das wertete der Richter als Beleidigung der Wahlbehörde. Dass zuvor Innenminister Süleyman Soylu Bürgermeister İmamoğlu als Idiot bezeichnet hatte, und İmamoğlu mit seinem Aussage bloß Paroli gab, macht das Urteil nur noch absurder. Zudem erinnert es stark an ein Urteil gegen Recep Tayyip Erdoğan 1998, als dieser noch Istanbuler Oberbürgermeister war. Wegen eines von ihm rezitierten Gedichtes musste er damals ins Gefängnis und wurde mit einem Politikverbot belegt.

Doch die meisten Türk*innen erklärten sich mit dem Verurteilten solidarisch, er avancierte zum Helden. Dasselbe könnten nun mit İmamoğlu passieren. Allerdings, so betont CHP-Abgeordneter Tekin: „Damals gab es noch Demokratie, Meinungsfreiheit und eine funktionierende Justiz. Das alles haben wir heute nicht mehr. Der Unterschied zwischen damals und heute ist wie Tag und Nacht.“ Die einzige Lösung sei ein starkes Bündnis aller demokratischen Kräfte im Land, davon ist er überzeugt.

Ob es zu so einer breiten Solidarität kommen wird, das werden die nächsten Wochen zeigen. Viele Kurd*innen etwa urteilen, die CHP zahle nun den Preis dafür, dass sie vor Jahren nicht ausreichend gegen die Verhaftung des kurdischen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und die Absetzung gewählter HDP-Bürgermeister im Südosten protestiert hat. Der erste Grundstein für dieses Urteil wurde schon vor Jahren gelegt.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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