Polen: Warum eine halbe Million Menschen auf die Straße gegangen ist
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Der U-Bahnhof Politechnika im Warschauer Zentrum war am vergangenen Sonntagmittag so voll, dass kein Quadratzentimeter der Bodenfläche mehr zu sehen war. Aus den Zügen stiegen immer mehr Menschen aus, mit und ohne Transparente, in jedem Alter; die Stimmung war ernst und feierlich. Von dort aus ist es nicht mehr weit zum Plac na Rozdrożu (wörtlich übersetzt dem Platz am Scheideweg), wo die für den Tag durch die polnische Opposition aufgerufene Demonstration starten sollte.
Das Datum war kein Zufall – der 4. Juni sollte an die ersten halbfreien Wahlen im Jahre 1989 erinnern – das Ergebnis der friedlichen Revolution, die den Eisernen Vorhang aufzog und den Beginn der Demokratie in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg markierte. Halbfrei, weil man sich damals darauf einigte, dass ein Teil der Sitze im Parlament an Vertreter*innen der Blockparteien des alten Systems ging.
Lex Tusk
Zu dem Marsch, der bis zum Schlossplatz in der Altstadt führte, rief Donald Tusk, der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Vorsitzender der Bürgerplattform und Spitzenkandidat der Opposition bei den für diesen Herbst geplanten Parlamentswahlen auf. Es war seine Antwort auf das eilig von der PiS-Regierung verabschiedete Gesetz, das nun in den Medien „Lex Tusk“ genannt wird.
Das Gesetz „über die Staatliche Kommission zur Untersuchung der russischen Einflüsse auf die innere Sicherheit der Republik Polen 2007-2022“ wurde am 29. Mai von dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda unterschrieben, am nächsten Tag durch das Verfassungsgericht bestätigt, am 31. Mai im Gesetzesblatt veröffentlicht und ist somit in Kraft getreten. In seiner Ansprache erklärte Duda, dies sei wichtig, „damit die Öffentlichkeit so schnell wie möglich erfährt, wie die Fragen des russischen Einflusses auf das öffentliche Leben, auf die Wirtschaft und Sicherheit im Land geklärt werden“ (Zitat in meiner Übersetzung).
Zehnjähriges Politikverbot könnte drohen
Die Opposition sieht das Gesetz ganz klar im Zusammenhang mit der Energiepolitik der polnischen Regierung in den Jahren 2007 bis 2014, als Donald Tusk Premierminister war. Verfassungsrechtler*innen schlagen Alarm. Die neunköpfige Kommission könnte zum Beispiel über ein zehnjähriges Verbot der Ausübung eines öffentlichen Amtes entscheiden – was sie in ihrer Funktion über die Gerichte im Land stellen und ihr die Möglichkeit geben würde, Oppositionelle aus dem öffentlichen Leben zu eliminieren. Und das bei einer Instrumentalisierung der russischen Aggression auf die Ukraine, unter dem Vorwand der Zusammenarbeit mit Russland, also in einem sehr schmerzhaften Kontext.
Der Oberste Rat der Rechtsanwält*innen erklärte, dass es ein solches Gesetz in einem demokratischen Staat nicht geben dürfe. Es sei verfassungswidrig, unter anderem auch weil eine Berufung als Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der Kommission ausgeschlossen ist.
Sowohl die Europäische Kommission als auch die USA haben starke Bedenken gegen die Gesetzgebung geäußert, woraufhin Duda einen Plan ihrer Novellierung vorstellte – nur leider mahlen in dem Fall die politischen Verwaltungsmühlen sehr langsam beziehungsweise bis jetzt gar nicht.
Polnische Fahnen und Blitze
Laut Angaben des Warschauer Rathauses, sind am vergangenen Sonntag circa 500.000 Menschen in Warschau auf die Straßen gegangen. Da die Konsequenzen des Gesetzes im Grunde jede*n treffen können, nicht nur Politiker*innen, stand auf den Transparenten der Demonstrierenden unter anderem: „Ich gehe, weil ich nicht sitzen will“. Viele Menschen, die an dem Marsch teilgenommen haben, sind von außerhalb der Stadt angereist.
Interessant: Neben EU-Fahnen sah man auf der Demo auch viele polnische Fahnen, was symbolisch und visuell sehr wichtig ist, denn es spricht gegen die bisherigen Narrative der polnischen Regierung, dass hinter den polnischen Flaggen sich ausschließlich PiS-Wähler*innen befinden. Während der Proteste gegen die amtierende Regierung in den vergangenen Jahre hat man auf politische und staatliche Symbole weitgehend verzichtet und stattdessen zum Beispiel mit Kerzen – als Symbol der Auslöschung der Rechtsstaatlichkeit – oder Blitzen – als Symbol von Wut und Macht im Streik der Frauen – gearbeitet. Möglicherweise haben wir es hier mit einer gewissen Wiedererlangung der polnischen Fahne in Verteidigung der Demokratie zu tun.
Keine Stimmen aus dem Ausland mehr
Dass Gesetze und ihre Novellierungen durch die PiS in Polen eilig, oft nachts und für die Bürger*innen überraschend verabschiedet werden, ist nichts Neues. Das hat man in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erlebt: in Bezug auf die umstrittene Justizreform, die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes und erst kürzlich die Änderung der Wahlordnung.
Diese sieht unter anderem vor, dass Briefwahl im Ausland nicht mehr möglich ist und die Stimmen aus den Wahlkommissionen im Ausland innerhalb von 24 Stunden ausgezählt werden müssen, was bei großen Kommissionen vor allem in Europa und den USA nicht zu schaffen sein wird. Dies bedeutet, dass im Ausland abgegebenen Stimmen nicht mitgezählt werden. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen gingen die meisten Stimmen aus dem Ausland an Rafał Trzaskowski – den Kandidaten der Opposition.
Gespaltene Gesellschaft
Die Demo hat sehr positive Emotionen erzeugt und gibt Hoffnung auf Veränderung. Die Gesellschaft bleibt aber gespalten. Würde die Opposition es schaffen, die Wahlen zu gewinnen, müsste sie, aus heutiger Sicht, eine aus vier Parteien bestehende Koalitionsregierung bilden, die wahrscheinlich auf Grund der vielen Unterschiede zwischen den Parteien nicht sehr stabil wäre.
In Berlin hat am vergangenen Sonntag Dziewuchy, das polnische queer-feministische Kollektiv, zu einer Demo am Brandenburger Tor aufgerufen – in Solidarität mit den Protestierenden in Warschau. Ich habe meine Blitz-Ohrringe angesteckt und bin hingegangen. Mein Sohn saß auf meinen Schultern und beobachtete von oben die circa 200 bis 300 dort versammelten Menschen. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich versuchte, ihm zu erklären, warum wir da sind. Schließlich sagte er, er mag die Ohrringe.
Erst zwei Tage später berichtete die polnische Presse vom Tod der 33-Jährigen Frau, die am 24. Mai in der 20. Schwangerschaftswoche im Krankenhaus in Nowy Targ in Süd-Polen in Folge eines septischen Schocks starb. Man hätte sie retten können, indem man eine Frühgeburt eingeleitet hätte. Leider ist das nicht der erste Tod dieser Art, nachdem das Abtreibungsgesetz 2021 verschärft wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, Ogólnopolski Strajk Kobiet, die Frauenprotestbewegung kündigte für diese und nächste Woche Streiks in Krakau und Warschau an.
ist Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin von Kurzprosa und journalistischen Texten. 2014 wurde sie mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet.