International

Nach Corona: „Eine Verkürzung von Lieferketten ist für den Welthandel keine Lösung.“

SPD-Handelsexperte Bernd Lange warnt vor einer vorschnellen Verkürzung von Lieferketten wegen der Corona-Krise. Das würde Produkte verteuern und ärmeren Ländern schaden. Stattdessen soll ein europäisches Lieferkettengesetz helfen, den Welthandel robuster zu machen.
von Kai Doering · 28. April 2020
Textilfabrik in Ghana: Die Frage der Lieferketten in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, ist richtig, sagt Bernd Lange. Er will die Globalisierung mit einem europäischen Lieferkettengesetz gerechter machen.
Textilfabrik in Ghana: Die Frage der Lieferketten in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, ist richtig, sagt Bernd Lange. Er will die Globalisierung mit einem europäischen Lieferkettengesetz gerechter machen.

Erleben wir gerade das Ende der Globalisierung?

Nein. Wir erleben durch die Corona-Krise nicht das Ende der Globalisierung, aber eine deutliche Veränderung. Entscheidend wird die Frage sein, welche politischen Weichen wir jetzt stellen, damit sich die globalisierte Wirtschaft vernünftig und gerecht weiterentwickelt.

Unternehmen und Staaten machen gerade die Erfahrung, wie zerbrechlich globale Lieferketten sind und dass es gefährlich sein kann, zu sehr von anderen abzuhängen. Viele sprechen bereits davon, Produktionen wieder zu nationalisieren. Ist das sinnvoll?

In der akuten Krise werden gerade mitunter sehr schnell protektionistische Maßnahmen ergriffen. Auch Deutschland hat ja ein Exportverbot für Schutzausrüstung erlassen, womit auch Lieferketten durchbrochen worden sind. Manche Länder überlegen – aus meiner Sicht vorschnell –, Lieferketten zurückzuholen. Dabei muss man im Hinterkopf haben, dass über Lieferketten häufig unternehmerische Risiken und schlechte Arbeitsbedingungen ausgelagert werden, etwa wenn man sich die Textilindustrie ansieht, wo wegen der Corona-Krise innerhalb einer Woche Lieferungen im Wert von eineinhalb Milliarden Euro storniert worden sind. Die Frage der Lieferketten in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, ist richtig. Entscheidend ist aber nicht, sie in welcher Form auch immer zurückzuholen. Sie müssen stattdessen stabil und fair gestaltet werden.

Welche Folgen hätte ein Zurückholen?

Wenn man versuchen würde, die gesamte Produktion nach Europa zurückzuholen, hätte das zunächst deutliche Kostensteigerungen zur Folge. Produkte würde also teurer. Eine weitere Folge wäre, dass Arbeit aus anderen Ländern abgezogen wird, was für diese große wirtschaftliche und soziale Verwerfungen bedeuten würde. Eine Verkürzung von Lieferketten ist deshalb für den Welthandel keine Lösung.

In einem Positionspapier fordern Sie stattdessen ein europäisches Lieferkettengesetz. Was soll das leisten?

Wir müssen sicherstellen, dass Lieferketten nicht durch Schocks wie jetzt Corona infrage gestellt werden. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass es für wichtige Produkte nur einen einzigen Lieferanten gibt oder dass Lieferstrukturen bei kleinen Erschütterungen bereits zusammenbrechen. Als zweites müssen wir dafür sorgen, dass es verantwortungsvolle Lieferketten gibt, in denen Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards an allen Stellen gesichert werden. Ein europäisches Lieferkettengesetz würde die Unternehmen genau zu dazu verpflichten.

Wäre das nicht eigentlich Aufgabe der Welthandelsorganisation WTO?

Natürlich ist die gerechte Ausgestaltung des Welthandels eine globale Frage. Als Europäische Union haben wir aber weltweit eine Gestaltungsmacht, die wir unbedingt nutzen sollten. Insofern könnte ein europäisches Lieferkettengesetz eine gute Vorlage für eine Regelung auf Ebene der WTO werden. Verbündete dafür gibt es auch in ganz anderen Ecken der Welt.

Die WTO geht wegen der Corona-Krise für dieses Jahr von einem Rückgang des globalen Warenhandels von bis zu 30 Prozent aus. Was bedeutet das für das Welthandelssystem?

Der Rückgang der Handelsströme betrifft nicht nur Güter, sondern in hohem Maß auch Dienstleistungen. Das führt bereits zu erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen. Besonders zu schaffen macht das den weniger entwickelten Ländern. Bei ihnen gehen in der Corona-Krise viele Arbeitsplätze verloren, aber auch in großem Umfang Kapital, weil Investitionen fehlen. Was die Industriestaaten an Soforthilfe und perspektivisch mit einem Wiederaufbauprogramm leisten, ist in diesen Ländern undenkbar. Deshalb brauchen sie unsere besondere Unterstützung.

Woran denken Sie dabei?

Wir sollten zum Beispiel prüfen, ob es mehr und bessere Möglichkeiten des Marktzugangs für diese Staaten geben kann. In der EU haben wir die Zölle und die Umsatzsteuer für medizinische Schutzausrüstung gestrichen. Diesen Weg sollten wir auch in vielen anderen Bereichen gehen und – etwa über die Europäische Investitionsbank – auch dafür sorgen, dass mehr in diesen Ländern investiert wird.

Ist das Bewusstsein dafür bei den europäischen Staats- und Regierungschefs vorhanden?

Das Bewusstsein dafür, dass Lieferketten statt abstrakter Handelsabkommen mehr in den Mittepunkt des Interesses rücken müssen, wächst. Innerhalb der EU wurden während der Corona-Krise bereits mehr als 60 rein protektionistische Maßnahmen ergriffen. Schon allein das zeigt, dass da etwas passieren muss. Mit EU-Handelskommissar Phil Hogan habe ich schon einen Workshop vereinbart zur Frage, wie die europäische Handelspolitik nach Corona aussehen muss. Bei einem Lieferkettengesetz wäre ohnehin das Europäische Parlament gefordert. Im Bereich der Konfliktmineralien wie Gold und Wolfram haben wir so ein Gesetz ja bereits auf den Weg gebracht. Ich hoffe sehr, dass Parlament, Kommission und Rat da Hand in Hand arbeiten werden.

Die Staaten bekämpfen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zurzeit mit massiven Hilfspaketen. Wie groß ist die Gefahr, dass hinterher das Geld für Investitionen etwa in klimaverträglichen Handel fehlt?

Die Gefahr gibt es natürlich. Investitionen in die Zukunft müssen auch zukunftsgerecht sein. Wenn wir in die Stabilisierung und Weiterentwicklung der Industrie investieren, muss das den Transformationsprozess im Sinne eines gerechten Wandels oder „Just Transition“ einleiten. Das „Greening“ des Handels darf wegen Corona nicht unter den Tisch fallen.

Vor gut zehn Jahren hat erst die Finanz- und dann die Wirtschaftskrise die Welt erschüttert. Welche Erfahrungen von damals können helfen, die Folgen der Corona-Krise besser zu bewältigen?

Die wichtigste Erfahrung der damaligen Krise war, dass das multilaterale, regelbasierte Handelssystem stabilisiert werden muss, damit einzelne Länder nicht abgehängt werden. Die G20 etwa hat entsprechende Beschlüsse formuliert. Leider muss man jedoch feststellen, dass mit der Corona-Krise die nationalen Reflexe wieder hochkommen.

Wie wollen Sie verhindern, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des weltweiten Handels verlorengeht?

Schon vor Corona hat die Kritik an der Globalisierung deutlich zugenommen – und das durchaus zurecht. Zwar bringt die Globalisierung Wachstumsimpulse, aber die sind nicht gerecht verteilt worden. Es gab etwa deutliche Verwerfungen, weil die Globalisierung zur einseitigen Kostenreduzierung missbraucht worden ist. Corona verschärft diese Konflikte und macht eine Re-Regulierung der Globalisierung unumgänglich. Ohne eine klare Perspektive, wie ein fairer Handel ausgestaltet werden kann, wird es keinen Zuspruch der Bevölkerung mehr geben.

Ohne Globalisierung geht es aber nicht?

Nein, das ist eine Illusion. Die Vorstellung, man könnte jenseits der Globalisierung einen geschützten Raum aufbauen und die Produktion nach Europa oder gar Deutschland verlagern wie es im vorletzten Jahrhundert war, ist ein fataler Irrglaube.

node:vw-infobox

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare