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Missbrauch von Immanuel Kant: So hart rechnet Kanzler Scholz mit Putin ab

Immanuel Kant ist Putins Lieblingsphilosoph. Bei einer Feier zu dessen 300. Geburtstag haute Olaf Scholz dem Kreml-Herrscher Kants Worte geradezu um die Ohren: Aufklärung und Angriffskrieg – kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passe nicht zusammen.

von Lars Haferkamp · 23. April 2024
Klartext des Kanzlers: Für Olaf Scholz hat Wladimir Putin kein Recht, sich auf Immanuel Kant, den Philosophen der Aufklärung, zu berufen.

Klartext des Kanzlers: Für Olaf Scholz hat Wladimir Putin kein Recht, sich auf Immanuel Kant, den Philosophen der Aufklärung, zu berufen.

Damit hat wohl niemand gerechnet: Als in Berlin am Montag der 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant mit einem Festakt begangen wird, spricht auch der Bundeskanzler. Wer nun eine wohltemperierte akademische Rede erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. Denn Olaf Scholz nutzt seine Rede zu einer scharfen und beißenden Abrechnung mit Wladimir Putin, wie man sie so von ihm noch nicht gehört hat. Der Hintergrund: Der im heutigen Kaliningrad geborene Kant gilt als „Lieblingsphilosoph“ des Machthabers im Kreml. Gerne nutzt Putin den Wegbereiter der Aufklärung für seine Propaganda.

Wer möchte, kann die Kanzler-Rede an diesem Montag selbst als ein Werk der Aufklärung in der Tradition Kants verstehen, denn Scholz öffnet dem Publikum die Augen, indem er eine Lüge Putins nach der anderen entlarvt. 

Scholz über Putins „persönliche Kant-Leidenschaft“

So verweist Scholz auf die „persönliche Kant-Leidenschaft“ Putins und erinnert an den Juli 2005, als Putin Kants Grab in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, besucht. Wie ein Friedensengel flötet damals Putin: „Kant war ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg. Und wir versuchen, uns an diesen Teil seiner Lehre zu halten. (…) Ich glaube, dass die Vision, die Kant dargelegt hat, von unserer Generation verwirklicht werden sollte und kann.“ Der Unterschied zur Realität seiner Politik könnte nicht größer sein.

Und dann nutzt Scholz „die beißende Kritik, die der Aufklärer Kant an den despotischen Staatsoberhäuptern seiner Zeit übte“ für seine Abrechnung mit Putin: „Unter Putins Oberbefehl werden in Russland heute wieder Untertanen als – Kants Worte – ‚nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht‘.“ Genau diese „Instrumentalisierung und Verzweckung von Menschen“ sei es, die Kant angeprangert habe, so Scholz. „Genau das steht all seinen Vorstellungen vom Recht des Menschen, von der Freiheit, Autonomie und Würde jedes Menschen diametral entgegen. Schon deshalb hat Putin nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen.“

„Putin hat kein Recht, sich auf Kant zu beziehen“

Was für Kants Vorstellung von Menschenrecht und Menschenwürde gelte, das gelte ganz genauso für seine Gedanken zu Krieg und Frieden. „Auch hier hat Putin nicht das geringste Recht, sich positiv auf Kant zu beziehen – im Gegenteil“, sagt Scholz. Es sei doch ganz offensichtlich: „Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen. Kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passt nicht zusammen.“

Doch daraus folge keineswegs, „dass Putin und sein Machtapparat nun von sich aus darauf verzichten würden, Kant für ihre Zwecke zurechtzubiegen“. Das Gegenteil sei der Fall. Gerade in diesem Jubiläumsjahr seien aus Russland „besonders verstörende und abwegige Kant-Auslegungen zu hören“. 

Kant wollte Kritik – Putin erstickt sie 

Erst Anfang dieses Jahres habe Putin erklärt: „Kant ist ein fundamentaler Denker, und sein Aufruf, den eigenen Verstand zu nutzen, ist höchst aktuell. Für Russland bedeutet das praktisch, dass wir uns von unseren nationalen Interessen haben leiten lassen.“ Scholz spottet über Putin: „Ich bezweifle ausdrücklich, dass Immanuel Kant ausgerechnet dies im Sinn hatte. Um nationale Interessen ging es Kant ganz sicher nicht.“ 

Kants Appell, so Scholz, sich „des eigenen Verstandes zu bedienen“ ziele auf individuelles „Selbstdenken“ und die Freiheit jedes und jeder Einzelnen. „Das alles wird in Putins Autokratie heute täglich mit Füßen getreten und im Keim erstickt, etwa mit den Mitteln der Zensur, der digitalen Desinformation und Überwachung“, so Scholz.

Scholz: Kant ist kein Stichwortgeber für Despoten

Wo die „Staatseigentümer“ – so ein Begriff Kants – des 21. Jahrhunderts solche Praktiken einsetzten, da wollten sie eben keine selbstdenkenden Bürger*innen. Vielmehr wollten sie unwissende und unmündige Untertanen, weil sie eben nur diese als „nach Belieben zu handhabende Sachen“ (Kant) für ihre eigenen Zwecke manipulieren und „verbrauchen“ könnten. Dass Kant solche Methoden aufs Schärfste verurteile, daran könne nicht der geringste Zweifel bestehen, betont der Kanzler.

Kant sei weder als Stichwortgeber für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine noch für „Völkerrechtsbruch und Despotie“ geeignet. Kants kategorische Haltung sei völlig klar. „Kein Staat soll sich in die Verfassung eines anderen Staates gewalttätig einmischen“, zitiert Scholz den Philosophen. „Genau das aber tut Russland in der Ukraine.“ Eindringlich warne Kant vor Angriffskrieg und Söldnertum, vor dem „Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen“. Scholz: „Nichts anderes aber stellt doch das zynische Verheizen eigener Rekruten, Strafgefangener und Söldner dar, wie es das russische Regime im Kampf gegen die Ukraine massenhaft betreibt.“ 

Kant lehrt: Kein Frieden um jeden Preis

Kein Staat, fordere Kant weiter, solle sich im Krieg mit einem anderen „solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Methoden wie die „Anstellung von Meuchelmördern“ und „Giftmischern“, der heimtückische Einsatz „höllischer Künste“ oder die „Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“ – das alles dürfe auf keinen Fall geschehen. „Methoden wie diese kommen uns aus dem aktuellen russischen Vorgehen nur zu bekannt vor“, so Scholz. 

Kant habe sich „über die Bösartigkeit der menschlichen Natur keine Illusionen“ gemacht, analysiert der Kanzler. Und noch weniger über, wie er schrieb, „Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können“. Und wo die Rechte des Einzelnen nichts gelten, wo Unterdrückung herrsche und Willkür – auch dort kehre kein dauerhafter Friede ein, so Scholz über die Philosophie Kants. Der Kanzler schließt mit einem Hinweis zum Ukraine-Krieg: „Wir alle wünschen uns Frieden für unsere Zeit. Aber ein Frieden um jeden Preis – das wäre keiner. Auch diese Einsicht lehrt uns Kant.“

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4 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 25.04.2024 - 08:29

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Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 26.04.2024 - 11:42

Antwort auf von Armin Christ (nicht überprüft)

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Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 26.04.2024 - 11:37

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Ich muss vorausschicken, dass ich Kant, den kleinwüchsigen, übermenschlich großen Philosophen aus Königsberg, nur aus zweiter Hand kenne, aus dem Zitatenschatz sozusagen. Auch seinen kategorischen Imperativ benutze ich, wenn überhaupt, eher als „Zwei-Worte-Überschrift“ denn als längeres Original: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der Du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“. Obwohl der Imperativ gar nicht kompliziert klingt, ist er viel komplexer, als seine Worte, in der Alltagssprache benutzt, angeben könnten. „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ ist aber eine brauchbare Annäherung.

In der Tat übersetzt Scholz „die beißende Kritik, die der Aufklärer Kant an den despotischen Staatsoberhäuptern seiner Zeit übte“, zu einer Abrechnung mit Putin und dessen Ukraine-Krieg. Das freudige Erstaunen LARS HAFERKAMPS darüber ist völlig berechtigt, weil alles, was Scholz da sagt, stimmt, und weil mit einer so „scharfen und beißenden Abrechnung ... wohl niemand gerechnet“ hätte. (Ich muss sie nicht nachzeichnen.)

Kants „kategorischer Imperativ“ kommt im Text zweimal vor, spielt aber in Scholz` Abrechnung mit Putin keine Rolle, weil diese Handlungsmaxime sich – hinterhältig - primär nicht an einen Anderen, sondern an mich selbst „nötigend“ richtet. Mir legt er auf, mich ständig meines moralischen Handlungsanspruchs zu vergewissern. (Da der Imperativ aber für jedes Ich gilt, ist er natürlich gleichzeitig auch universell.) Bezogen auf Putin und seinen Krieg würde der kategorische Imperativ z. B. verlangen, mein Verhalten während seiner Entstehung kritisch zu hinterfragen, und nicht nur seinen Fortgang zu betrachten und, beiläufig, sein Ende. Wie, wenn ich ihn ernst nähme, müsste ich mich verhalten, wenn ich in einem Konfliktsystem meine Strategie nach der Prämisse verfolge, „eine starke, unabhängige Ukraine ist für die Stabilität des euro-atlantischen Raumes ... und die breitere transatlantische Gemeinschaft unerlässlich“ (Nato-Strategie 2022), der andere Beteiligte die gleiche Strategie realisieren will, dabei aber an den „euro-asiatischen Raum“ denkt und, wie ich weiß, Krieg als politisches Mittel auffasst? Handle ich dem „kategorischen Imperativ“ gemäß, wenn ich eine Situation schaffe, die der Vorwärts triumphierend und dennoch absolut treffend so analysierte: Mit der Aufnahme der Ukraine „bekommt die Nato einen militärisch wichtigen Verbündeten und Russland bekommt einen potentiellen Gegner von Gewicht. ... ein geopolitisches Desaster von wahrhaft historischer Dimension“ für die Russische Föderation (26.2.24 (Im Vorwärts stand Schweden, nicht Ukraine))?
Was fordert der kategorische Imperativ von allen am Krieg Beteiligten, wenn H. A. Winkler, – alles Andere als ein Putin-Versteher, mit seiner Zustandsbeschreibung Recht hat, dass es „Versuche, mit Moskau über eine andere Form (außer dem Nato-Beitritt) von Sicherheit für ehemalige Sowjetrepubliken wie die Ukraine oder Georgien ins Gespräch zu kommen, nicht gab, ... der Westen hätte (sonst) seine Prinzipien verraten“ – für das Narrativ seiner Entstehung und, wichtiger noch, für die Möglichkeiten seiner Beendigung?

Kant ist ein ganz Unbequemer: Der kategorische Imperativ „nötigt“ nicht nur Putin, sondern auch Scholz, Steinmeier, den Westen.