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Javier Milei: Was vom neuen argentinischen Präsidenten zu erwarten ist

Am 10. Dezember tritt der neu gewählte argentinische Präsident Javier Milei sein Amt an. Svenja Blanke von der Friedrich-Ebert-Stiftung erklärt im Interview, was von dem Rechtspopulisten zu erwarten ist, der im Wahlkampf einen radikalen Umbau des Staates angekündigt hatte.

von Jonas Jordan · 8. Dezember 2023
Am 10. Dezember wird der neu gewählte argentinische Präsident Javier Milei ins Amt eingeführt.

Am 10. Dezember wird der neu gewählte argentinische Präsident Javier Milei ins Amt eingeführt.

Im Vorfeld der Wahl wurde Javier Milei als „Systemsprenger“ oder „Mann mit der Kettensäge“ bezeichnet. Was ist vom neuen argentinischen Präsidenten zu erwarten?

Milei hat einen Wahlkampf mit sehr radikalen Sprüchen gemacht. Seither hat er seine Positionen bereits abgeschwächt, auch weil er mit der konservativen Partei PRO das Regierungskabinett verhandeln musste. Die legale und politische Realität wird ihn als Präsident schnell einholen. Verschiedene extreme Positionen wie freier Handel mit menschlichen Organen sind bereits vom Tisch. Dennoch ist eine Politik zu erwarten, die den freien Austausch von Gütern und Produkten in den Mittelpunkt stellen wird. Sein Programm steht für den radikalen marktwirtschaftlichen Umbau, der durch viele Kürzungen im Staatshaushalt und Privatisierungsmaßnahmen auf Kosten von Angestellten geprägt sein wird. Angekündigt ist für Montag nach seinem Amtsantritt die Privatisierung der öffentlichen Medienanstalten, da er diese als Propagandainstrumente der abtretenden Regierung betrachtet, sowie die Privatisierung der 51%-Anteile des argentinischen Staates an dem Ölunternehmen YPF.  Ebenfalls für die ersten Monate sind ein Stopp aller öffentlicher Bauvorhaben, die vom Bund in Auftrag gegeben wurden, sowie der Stopp von staatlichen Subventionen für kulturelle Einrichtungen.  

Für öffentliches Aufsehen sorgte seine Kampagne für die Streichung diverser Ministerien. Die aktuell 15 Ministerien werden auf acht reduziert, so wird es weder ein Arbeits-, noch ein Bildungs-, noch ein Frauen- und Diversitätsministerium geben. Einige Bereiche werden logischerweise als Abteilungen in anderen Ministerien bearbeitet, doch das Frauenministerium oder Abteilungen, die sich speziell mit Fiskal- oder Ungleichheitsfragen aus Genderperspektive beschäftigt haben, mitsamt ihren Dokumenten und Projekten werden komplett gestrichen, da sie ebenfalls als Propagandamaterial „kommunistischer Ideologen“ betrachtet werden.

Sehr viel spürbarer für alle Argentinier*innen wird die Beschleunigung der Inflation und Geldentwertung. Mit Sicherheit wird der US-Dollar in absehbarer Zukunft nicht eingeführt werden, doch dafür ist für den Monat Dezember die Angleichung des offiziellen Dollarkurses an den Schwarzmarktkurs zu erwarten: eine weitere Entwertung von 100 bis 150 Prozent. Für die Mehrheit der Argentinier*innen bedeutet dies einen enormen Kaufkraftverlust – für deutsche Verhältnisse kaum vorstellbar – und für die mehr als 40 Prozent Armen noch härtere Bedingungen.

Denn selbst wenn die eigentliche Politik Mileis nicht so radikal in der Umsetzung sein wird, wie angekündigt, schon wenige Maßnahmen werden eine große Belastung für die Menschen sein. 

Milei gilt als Anarchokapitalist. Er kündigte an, Staatsbetriebe zu privatisieren und den Dollar als Währung einzuführen. Was würde das für Argentinien bedeuten?

Privatisierung, Abbau des Staates und die feste Kopplung des Pesos an den Dollar war DAS Programm der 1990er-Jahre in Argentinien. Es führte kurzfristig zu Geld im Staatstopf sowie in Privathaushalten, mittelfristig jedoch zum Staatsbankrott 2001 samt Sozial- und Politikkrise. Denn schon nach wenigen Jahren zeigten sich erste Nachwirkungen dieser Politik: Argentinische Produkte verteuerten sich auf dem Weltmarkt, die Wettbewerbsfähigkeit sank, es kam zu Spekulationen, einer negativen Handelsbilanz und einer starken Erhöhung der hohen Auslandsverschuldung, mit entsprechender Kapitalflucht und Rückzug von Investoren.

Der Glaube, dass diese Art von Stabilisierungsprogramm heute andere Konsequenzen haben würde, mag bei Milei groß sein, ist jedoch gegenüber den sozio-ökonomischen und politischen Realitäten und Abhängigkeiten des Landes blind. 

Svenja Blanke, Friedrich-Ebert-Stiftung

Das EU-Mercosur-Abkommen wird nicht kommen.

Im Wahlkampf ging der künftige Präsident auf deutliche Distanz zu Brasilien und nannte Präsident Lula einen „wütenden Kommunisten“. Was ist mit Blick auf das Verhältnis beider Staaten und ein mögliches EU-Mercosur-Abkommen zu erwarten?

Brasilien ist Argentiniens wichtigster Handelspartner. Überhaupt, die Beziehungen zwischen den beiden südamerikanischen G20-Ländern ist nicht nur aus handelspolitischen Gründen, sondern für das geopolitische Gleichgewicht in Lateinamerika bedeutend. Doch es werden sehr schwierige Zeiten auf die bilateralen Beziehungen zukommen. Milei hat Lula nicht nur „Kommunist“ geschimpft, sondern ihn als „korrupt“ bezeichnet – bisher ist keine Entschuldigung in Brasilien eingetroffen, die für ein zumindest offiziell diplomatisches Verhältnis nötig wäre. Auch hat Milei den ehemaligen Präsidenten Bolsonaro VOR dem aktuellen Präsidenten Lula zur Amtseinführung eingeladen, ein für Argentinien, wenn nicht ganz Lateinamerika, beispielloses Vorgehen und zeigt den starken Widerwillen gegenüber der wichtigen und amtierenden Regierung des großen Nachbarn. 

Das EU-Mercosur-Abkommen wird nicht kommen. Milei hatte während seines Wahlkampfes den Mercosur in den Schmutz gezogen und mit einem Austritt aus dem Block gedroht. Doch das Mercosur-EU-Abkommen ist eigentlich seit dieser Woche – seit dem Gipfel in Rio – für die absehbare Zukunft – und vielleicht für immer – vom Tisch. Brasilien und Spanien hatten Monate darauf hingearbeitet, in der Hoffnung das Abkommen über die Ziellinie zu bringen. Doch in den letzten Tagen haben sich sowohl der argentinische Präsident Alberto Fernández als auch der französische Präsident Emmanuel Macron öffentlich dagegen ausgesprochen. Letztendlich kam der „Dolchstoß“ für das Mercosur-EU-Abkommen nicht von der Person, die die meisten Beobachter*innen erwartet hatten: In einer pragmatischen Wendung sagte Milei wenige Tage nach seinem Wahlsieg am 19. November, dass er ein Freihandelsabkommen generell unterstütze. Und letztendlich dürfen wir nicht vergessen, dass stets Frankreich in Opposition zum Abkommen ist.

Viel wichtiger aber ist, dass es unter Milei nicht zum Ausverkauf und Plünderung von argentinischen Ressourcen wie Lithium, Edelmetallen und anderen Rohstoffen im falschen Namen der Freiheit kommt. Die Finanzlage ist so miserabel, dass das Porzellan verkauft werden muss. Unter Milei geht es dabei aber nicht um den Ausbau von Arbeitsplätzen, um Umweltschutz oder sozialen Frieden. Und Europa? Was ist den Europäern näher? Ihr eigenes Hemd, das diese Ressourcen für die Energiewende im Namen der Umwelt benötigt, oder ein gemeinsamer Ansatz, der der Mehrheit der Menschen auf beiden Kontinenten nutzt? Wie weit geht unsere Solidarität?

Droht Argentinien eine ähnliche gesellschaftliche Spaltung wie Brasilien unter Bolsonaro, mit dem Milei mitunter verglichen wird?

Die gesellschaftliche Spaltung ist bereits seit Jahren da. Es gibt sogar ein ganz konkretes Wort dafür in Argentinien: la grieta. Damit ist eine unüberwindbare Distanz zwischen dem bisher eher progressiven peronistischen und nicht peronistischen und dem konservativen Lager gemeint. Eine wie in Deutschland übliche Große Koalition ist demnach nicht denkbar. Milei hat im Prinzip diese Spaltung im Wahlkampf aufgehoben, in dem er Front gegen die politische Kaste machte, mit der er beide Lager gleichermaßen meinte und viel Unterstützung fand, weil viele Argentinier*innen so unzufrieden sind. Doch nach den Wahlen lernen wir einen anderen Milei kennen, einen, der mit der konservativen Elite verhandeln muss. Er ist damit Teil der existierenden politischen Spaltung geworden. 

Dennoch, zu erwarten ist eine noch stärkere Polarisierung sozialer Gruppen, Schichten und ihrer Anliegen und möglicherweise eine noch stärkere Konfrontation. Sollte Milei allerdings in einigen Monaten nicht liefern, vor allem seinen Wähler*innen aus den ärmsten Einkommensschichten, die sich Dollar und Verbesserung ihrer Situation erhoffen, können sich diese sehr schnell gegen ihn wenden. Die Kultur der Kritik und Protests im öffentlichen Raum ist in Argentinien sehr stark ausgeprägt. Und zu hoffen ist hier wirklich, dass die neue Regierung den Sicherheitsapparates des Staates nicht missbraucht.

Svenja Blanke

Die Hegemonie des Kirchnerismus ist vorbei.

Was bedeutet die verlorene Wahl für die Zukunft des Peronismus in Argentinien?

Der Peronismus hat praktisch im ganzen Land verloren. Die Hegemonie des Kirchnerismus ist vorbei. Der Peronismus tritt in eine Post-Cristina-Kirchner-Phase, die noch offen ist. Absehbar ist bereits jetzt, dass die konservativeren Peronist*innen – die Provinzgouverneure und ehemalige Menem-Leute – an Macht dazugewinnen, einige treten sogar in die Regierung Milei ein. Im Kongress bleiben sie die stärkste Fraktion, mit der Möglichkeit Maßnahmen von Milei zu verhindern bzw. zu verhandeln. Wer letztendlich als neue Figur das peronistische Rennen um die Macht machen wird, ist noch völlig unklar. Die erstaunliche Allianz von progressiven, moderaten Peronist*innen, der Frauen- und Umweltbewegung und nicht-peronistischer Progressiver, die Sergio Massa trug, war eher eine Milei-Verhinderungs-Koalition. Klar ist daher nur, dass der Peronismus, der sich im Laufe seiner Geschichte stets als extrem wandelbar und anpassungsfähig erwiesen hat, überleben wird, indem er sich der neuen Zeit anpasst, nur wie und mit wem ist unscharf. 

Letztendlich steht er vor der gleichen Aufgabe wie die europäische Sozialdemokratie: eine diverser werdende demokratische Gesellschaft mit Neugier lesen und verstehen, Ängste begreifen, die Interessen einer breiten Mehrheit repräsentieren und artikulieren, die nicht zu den Einkommens- und Vermögensreichen gehören, sozio-ökonomische und Bürger-Rechte nicht gegeneinander ausspielen und nicht vergessen, welche fatalen sozialen Folgen die absolute Markthörigkeit haben können. Marktorientierte Freiheit hat ja anscheinend neue politische Angebote wie Milei, die Wahlen gewinnen können. 

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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