Gewalt in Syrien: „Präsident al-Scharaa hat Vertrauen eingebüßt“
Vor zwei Wochen erschütterte ein Massaker an der Bevölkerungsgruppe der Drusen in Syrien die Welt. Im Interview sagt Sara Stachelhaus von der Heinrich-Böll-Stiftung, wie es dazu kam und warum Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa um Vertrauen kämpfen muss.
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Syrischer Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa: Große Teile der syrischen Bevölkerung müssen erst noch Vertrauen zu den Behörden in Damaskus aufbauen.
Das Massaker an der Bevölkerungsgruppe der Drusen in der syrischen Provinz Suweida hat die Welt aufgeschreckt. Wie ist die Situation in Syrien im Moment?
Wir waren eine Woche vor Ausbruch der Gewalt in Suweida in Syrien unterwegs und haben bereits zu dieser Zeit viel Furcht vor der Zukunft und den neuen Machthabern in Damaskus wahrgenommen. Vielen Syrer*innen ist – aufgrund ihrer Vergangenheit als bewaffnete islamistische Gruppe mit früheren Verbindungen zur al-Kaida – noch immer unklar, wofür Präsident Ahmed al-Scharaa und seine Getreuen stehen. Zurzeit genießen die Menschen in Syrien eine Freiheit, die größer ist als sie es jemals unter Assad gewesen war. Zugleich sind sich die Menschen aber auch bewusst, dass diese gerade gewonnenen Freiheiten nicht in Stein gemeißelt sind und viele gehen davon aus, dass es in der Zukunft wieder zu Einschränkungen kommen könnte.
Die Gewalt in Suweida hat diese Furcht jetzt noch einmal vertieft. Für viele hat sich bestätigt, dass die Autoritäten in Damaskus nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, alle Teile der Bevölkerung zu schützen. Im März hatte es ja bereits ein Massaker an der Küste gegeben. Diese erneute Episode der Gewalt hat viel Vertrauen in ein friedliches, gemeinsames Syrien eingebüßt. Und es wird auch nur sehr schwer wiederherzustellen sein.
Übergangspräsident al-Scharaa hatte nach der Machtübernahme versprochen, alle ethnischen und religiösen Minderheiten zu schützen. Kann er das nicht oder will er es nicht?
Fest steht, dass al-Scharaa als de facto Staatschef dafür verantwortlich ist, die Sicherheit aller Menschen in Syrien zu gewährleisten. Ebenso klar ist, dass er das zum wiederholten Mal nicht konnte. Al-Scharaa ist auch dafür verantwortlich, dass die Sicherheitskräfte in den eigenen Reihen sich an Recht und Gesetz halten und keine Verbrechen verüben. Nachweislich waren aber Sicherheitskräften aus Damaskus an den Verbrechen in Suweida beteiligt. Dementsprechend hat al-Scharaa Vertrauen eingebüßt bei den Mitgliedern religiöser und ethnischer Minderheiten, aber auch unter seinen eigenen Leuten, da er die israelischen Angriffe zur Unterstützung der Drusen nicht abwehren konnte.
Sara
Stachelhaus
Große Teile der syrischen Bevölkerung müssen erst noch Vertrauen zu den Behörden in Damaskus aufbauen. Die meisten möchten das auch, aber die Vertrauensbildung braucht Zeit.
Ist al-Scharaa denn von allen Syrer*innen als Staatspräsident anerkannt?
Große Teile der syrischen Bevölkerung müssen erst noch Vertrauen zu den Behörden in Damaskus aufbauen. Die meisten möchten das auch, aber die Vertrauensbildung braucht Zeit. Hinzu kommt, dass sowohl in den kurdischen Autonomiegebieten als auch in Suweida in den letzten Jahren ein gewisser Grad von Autonomie und Selbstverwaltung geherrscht hat. Das bedeutet nicht, dass die Drusen separatistische Bestrebungen verfolgen, wie manchmal behauptet wird. Es hatte bereits Verhandlungen zwischen den lokalen Führungspersonen in Suweida und der Übergangsregierung in Damaskus gegeben, die jetzt massiv zurückgeworfen wurden. Eine Integration in die staatlichen Strukturen kann nur schrittweise und parallel zur Vertrauensbildung erfolgen. Um Vertrauen aufzubauen, müssen die Machthaber in Damaskus unter anderem die Verbrecher zur Rechenschaft ziehen, Kontrolle über ihre Armee herstellen und zeigen, dass sie die Sicherheit sowie demokratische Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen gewährleisten.
Gab es für das Massaker in Suweida eigentlich einen konkreten Auslöser?
Begonnen hat es mit dem Angriff mutmaßlich beduinische Krimineller auf den drusischen Fahrer eines LKW mit Gemüse. Dieser wurde gestohlen. Daraufhin haben drusische Milizen beduinische Zivilist*innen gekidnappt. Als Gegenreaktionen wurden Beduinen gekidnappt, was dann zu bewaffneter Gewalt zwischen den drusischen und den sunnitisch-beduinischen Milizen rund um Suweida geführt hat. Daraufhin schaltete sich dann die Regierung in Damaskus ein und schickte Truppen nach Suweida. Das war ein großer Einschnitt, weil die Region schon unter Assad relativ autonom war und seit dessen Sturz keine Regierungstruppen in die Stadt gekommen waren. Deshalb war von Anfang an die Sorge groß, dass die Vorgänge von Damaskus als ein Vorwand genutzt werden könnten, um eine Truppen-Präsenz in der Region mit Gewalt durchzusetzen.
So kam es schließlich zu gewaltsamen Ausschreitungen von drusischen Milizen auf die Truppen der Übergangsregierung. Zugleich wurden von den Regierungstruppen Brandschatzungen, Morde, und Raubüberfälle auf die drusische Zivilbevölkerung verübt. Die Regierungstruppen sind keine homogene Armee, sondern beinhalten verschiedene Milizen mit abweichender Disziplin und Loyalität, die zu unterschiedlichem Grad in die Armee integriert sind. Ich habe auch gehört, dass unter den Truppen, die nach Suweida geschickt wurden, Kämpfer mit einem beduinischen Hintergrund waren. Das hat dann die Situation sicher noch weiter angefacht.
Welcher Zukunft blickt Syrien entgegen, wenn es immer wieder zu Ausschreitungen gegenüber ethnischen Minderheiten kommt?
Es gibt viele Syrer*innen, die den Sturz des Assad-Regimes gefeiert und gehofft haben, jetzt ein Syrien gemeinsam aufbauen zu können über die verschiedenen demografischen Unterschiede hinweg. Die Massaker und die Verbrechen und Rechtsverletzungen, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, haben diese Hoffnungen gedämpft. Die Situation ist nicht hoffnungslos, aber der Weg ist sehr, sehr lang und sehr steinig. Und das Massaker von Suweida wird sicherlich nicht der letzte Rückschritt bleiben. Nichtsdestotrotz sehe ich ein einiges Syrien weiterhin als möglich an.
Welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein?
Die Übergangsregierung in Damaskus muss dringend den politischen Übergang zulassen. Sie muss die Freiheiten und Rechte der Bürger*innen gewährleisten und freie Wahlen vorbereiten. Dass sie nun Parlamentswahlen durch einen Wahlausschuss für den September angekündigt hat, ist ein wichtiger Schritt. Das Ziel bleiben jedoch direkte und freie Wahlen durch die Bevölkerung. Die Übergangsregierung muss es aber auch schaffen, Sicherheit zu gewährleisten und begangene Verbrechen aufzuarbeiten. Gerade wurde ein Untersuchungsbericht zu den Massakern an der Küste im März vorgelegt. Daraus müssen jetzt Konsequenzen folgen und die Täter aus den eigenen Reihen müssen bestraft werden. Dasselbe muss mit den Tätern aus Suweida passieren. Und darüber hinaus braucht das Land dringend eine Aufarbeitung aller Verbrechen der letzten Jahrzehnte. Das alles ist eine sehr schwierige Aufgabe, aber keine unlösbare.
Sara
Stachelhaus
Für die Stabilisierung Syriens und den Wiederaufbau des Landes ist die Aufhebung der Sanktionen sehr wichtig.
Welche Rolle spielen Nachbarstaaten wie die Türkei oder Israel, die gegenüber Syrien eigene Interessen verfolgen?
Die syrische Übergangsregierung hat signalisiert, dass von ihr keine Gefahr für andere Staaten ausgeht, auch nicht für Israel. Sie ist sehr darum bemüht, Legitimität nach innen, aber auch nach außen aufzubauen. Syrien ist für seine wirtschaftliche Erholung davon abhängig, internationale Beziehungen aufzubauen, insbesondere mit der EU und den USA, welche Sanktionen gegen Syrien errichtet hatten. Grenzüberschreitende Konflikte kann sich die Regierung daher eigentlich gar nicht leisten. Aber natürlich können Vorkommnisse wie jetzt in Suweida, die aufgrund der drusischen Bevölkerung in Israel und im Libanon eine regionale Dimension haben, dazu führen, dass sich andere Staaten bemüßigt fühlen, einzugreifen wie Israel es getan hat, indem es die Regierungstruppen angegriffen hat.
Um die drusische Zivilbevölkerung zu schützen, wie sie sagen.
Diesen Vorwand halte ich nicht für sehr glaubwürdig, weil Suweida in der Vergangenheit schon einmal bedroht war. 2018 gab es hier ein großes Massaker des „Islamischen Staats“ an der Zivilbevölkerung. Damals ist Israel nicht eingeschritten und auch nicht als während des syrischen Kriegs eine halbe Million Menschen getötet wurden. Gerade jetzt militärisch zu intervenieren, spricht für mich eher für geopolitische Interessen, als dass es Israel wirklich um den Schutz der Zivilbevölkerung geht.
Die USA haben bereits die meisten Sanktionen gegenüber Syrien aufgehoben, einige wenige sind noch in Kraft. Sollte es vorerst dabei bleiben, um weiter Druck auf die Regierung in Damaskus ausüben zu können, oder wäre es sinnvoller, sie komplett aufzuheben?
Für die Stabilisierung Syriens und den Wiederaufbau des Landes ist die Aufhebung der Sanktionen sehr wichtig. Indem man die Sanktionen aufhebt und die Menschen sich wirtschaftlich und finanziell erholen können, verringert man auch ihre Abhängigkeiten vom Staat und das Potenzial, sich von nichtstaatlichen Akteuren spalten und mobilisieren zu lassen. Dann natürlich ist es das fundamentale Kernanliegen der Syrer*innen, ihr Land wieder aufzubauen. Dabei stehen die Sanktionen gerade noch im Weg.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig, mit der Regierung in Damaskus kritisch im Gespräch zu bleiben und Unterstützung auch an Bedingungen zu knüpfen: an die Teilhabe und den Schutz der Bevölkerung und an die Aufarbeitung der Verbrechen etwa.
Die Gesprächspartnerin
Sara Stachelhaus ist Programmkoordinatorin der Heinrich-Böll-Stiftung für den Libanon, Syrien und den Irak mit Sitz in Beirut.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.