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Türkei: Warum es auch ein Jahr nach dem Erdbeben nicht vorangeht

Vor einem Jahr starben zehntausende Menschen bei zwei verheerenden Erdbeben in der Südosttürkei und Nordsyrien. Noch immer leben viele Menschen in Containern. Rechenschaft für das Ausmaß der Katastrophe will in der Türkei niemand ablegen.

von Kristina Karasu · 5. Februar 2024
Erdbeben in der Türkei

Blick auf die zerstörten Gebäude nach dem Erdbeben in der türkischen Stadt Hatay

Zwischen Schein und Wirklichkeit liegen Welten: ein Jahr nach den verheerenden Erdbeben glauben viele Türk*innen, dass es im Katastrophengebiet stetig bergauf geht. Die überwiegend regierungsnahen Medien haben das Thema in den letzten Monaten systematisch totgeschwiegen. Und wenn sie doch aus dem Gebiet berichten, dann zeigen sie Vertreter der Erdogan-Regierung, wie sie stolz neue Wohnkomplexe oder Krankenhäuser einweihen. Die Botschaft an den Rest des Landes: macht euch keine Sorgen, wir kümmern uns schon. Blickt nach vorne, und nicht zurück.

850.000 Wohnungen fehlen

Am 6. Februar 2023 verwüsteten zwei gigantische Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,5 allein in der Türkei elf Provinzen, insbesondere die Städte Kahramanmaras, Antakya und Adiyaman. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde starben dabei 50.783 Menschen - Experten gehen jedoch von weit höheren Zahlen aus. Wer durch die einstige Zentren von Antakya oder Karamanmaras streift, kann das nachvollziehen: wo sich einst ein Hochhaus an das andere reihte, zeigen sich nun steinerne Wüsten. Noch immer werden schwer beschädigte Häuser abgerissen, manche Viertel gleichen Geisterstädten. 

Präsident Erdogan versprach kurz nach den Beben, die Region innerhalb eines Jahres wiederaufbauen zu wollen. Von diesem Ziel ist man heute weit entfernt. Zwar hat die staatliche Baugesellschaft TOKI in der Region laut eigenen Angaben bereits mit dem Bau von 180.000 neuen Wohnungen begonnen, doch meist nicht in den einstigen Zentren, sondern auf Feldern an den Stadträndern, die schon vor den Beben als mögliche Baugründe ausgewiesen wurden. Doch das deckt nur einen winzigen Teil des Bedarfs - schließlich stürzten über 300.000 Gebäude ein oder wurden schwer beschädigt, fehlt es an über 850.000 Wohnungen und Geschäftsräumen. Heute leben immer noch hunderttausende Menschen in Containercamps.

Ärztekammer warnt vor Risiken

Bis die Region vollkommen wieder aufgebaut ist, dürfte es mindestens zehn Jahre dauern, schätzen unabhängige Stadtplaner*innen, Ingenieur*innen und Jurist*innen. Sie plädieren dafür, dass kurzfristig Fertighäuser für die Anwohner*innen errichtet und die einstigen Städte erst nach sorgfältiger Planung sozialer, historischer und wirtschaftlicher Aspekte wieder aufgebaut werden sollten. Doch wie so oft in der Türkei ist langfristige Planung unpopulär; und so wird vielerorts hastig gebaut. 

Doch das birgt Risiken. Die türkische Ärztekammer mahnt seit Monaten an, dass die beschädigten Häuser nicht fachgerecht abgerissen und der Schutt nicht fachgerecht entsorgt wird. Dadurch gelangt massenhaft Asbest in die Luft und ins Trinkwasser. Die Menschen im Erdbebengebiet sind deshalb extrem gefährdet an Lungenkrebs zu erkranken, warnen die Ärzte.

Zudem ist die medizinische Versorgung im Erdbebengebiet immer noch ein Problem. Weil mehrere Krankenhäuser einstürzten oder schwer beschädigt wurden, fehlt es vielerorts an Fachabteilungen. Wer etwa in Antakya einen Herzinfarkt erleidet, muss anderthalb Stunden bis in die nächste kardiologische Klinik fahren - damit zählt in so einem Notfall jede Minute.

Zu wenig Schulen, zu wenig Bildung

Neben der Gesundheitsversorgung mangelt es an Bildung. Nach den Beben blieben die meisten Schulen in der Region Hatay sieben Monate lang geschlossen. Im September öffneten sie wieder; doch viele Schule wurden zusammengelegt, so dass dort die Schüler*innen in überfüllten Klassen beengt nur in den Kernfächern unterrichte werden. Für Sport, Musik und Kunst fehlt es an Räumlichkeiten und Lehrpersonal, ganz zu schweigen von psychologischer Unterstützung für die größtenteils schwer traumatisierten Kinder.

Die Katastrophe aufzuarbeiten scheint ohnehin nicht im Sinne der Regierung. Politische Rechenschaft für das Ausmaß der Katastrophe hat so gut wie niemand abgelegt; spätestens seit Erdogans erneutem Wahlsieg im Frühjahr 2023 ist dieses Thema vom Tisch. Dabei tragen Staat und Regierung eine Mitschuld daran, dass so viele Gebäude einstürzten: die Erdogan-Regierung wies in vielen Provinzen sumpfige Felder als Baugebiet aus - dort stürzten beim Beben besonders viele Gebäude ein. Sie legalisierte 2018 durch eine Bauamnestie nachträglich illegale Bauten – viele von ihnen hielten den Beben nicht stand. Regionalverwaltungen schluderten ganz offensichtlich bei den Baukontrollen - auch dort, wo wie in Hatay die oppositionelle CHP regiert.

Pfusch am Bau: erste Gerichtsprozesse 

Die CHP zeigt sich ebenso wenig gewillt, eigene Fehler einzuräumen. Sie stellte für die kommenden Kommunalwahlen im März in Hatay erneut den umstrittenen Oberbürgermeister Lütfü Savas auf. Der glänzte nach den Beben durch Abwesenheit und katastrophal organisierte Rettungsmaßnahmen. Zudem nahm er den Bauunternehmer der erst 2013 errichteten „Rönesans Residenz“ in Schutz, die bei den Beben zur Seite kippte und 1.000 Menschen in den Tod riss. 

Bei den ersten Gerichtsprozessen, die in den letzten Wochen begannen, werden vor allem Bauunternehmer, Ingenieure oder private Baukontrolleure wegen Pfusch am Bau angeklagt. „Doch kein einziger Beamter, gewählter Bürgermeister oder Stadtratmitglied wurde wegen seiner Rolle bei der Genehmigung zahlreicher Bauprojekte, die weit hinter den Standards für sicheres Bauen zurückblieben, angeklagt“, prangert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem aktuellen Bericht an.

Besonders frappierend zeigt sich das am Beispiel des staatlichen Krankenhauses von Iskenderun: der A-Block des Krankenhauses stürzte bei den Beben ein, es starben 72 Patient*innen und medizinisches Personal. Dabei bescheinigte bereits ein Gutachten aus dem Jahr 2012, dass das Gebäude nicht erdbebensicher sei und dringend verstärkt werden müsse. Dem Gesundheitsministerium lag das Gutachten vor, doch nichts wurde unternommen. Die Angehörigen der Opfer haben nun vor Gericht Beschwerde eingelegt, fordern eine Anklage der staatlichen Verantwortlichen. Die Staatsanwaltschaft hingegen fordert nur die Aussage des privaten Bauunternehmers – der ist allerdings schon seit drei Jahren tot. 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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