Inland

Vergesellschaftung von Wohnraum: „Artikel 15 ist ein schlafender Riese“

Um etwas gegen hohe Mieten und steigende Energiepreise zu tun, plant die schwarz-rote Berliner Landesregierung ein „Gemeinwohlgesetz“. Im Interview erklärt SPD-Fraktionschef Raed Saleh, welche Möglichkeiten das Grundgesetz im Kampf gegen die Wohnungskrise bietet und warum das Berliner Beispiel Schule machen wird.

von Kai Doering · 22. Juli 2025
Blick von unten auf Balkone mit Sonnenschirmen

Wohnungen in Berlin: Trotz Beruf und normalem Einkommen können sich die Menschen die Stadt zum Teil nicht mehr leisten.

SPD und CDU in Berlin wollen ein Rahmengesetz erarbeiten, das Vergesellschaftungen von Unternehmen möglich machen soll. Träumt die SPD vom VEB, wie der „Tagesspiegel“ geschrieben hat?

Nein, darum geht es natürlich gar nicht. Wir wollen auch keine Enteignungen, wie Boulevard-Zeitungen in einer Kampagne nun gern behaupten. Uns geht es darum, bei aus dem Ruder gelaufenen Preisen oder Marktversagen in Fragen der Daseinsvorsorge, etwa bei Mieten oder der Energieversorgung, regulierend eingreifen zu können mit einem „Berliner Gemeinwohlgesetz“. Der Markt darf eben nicht alles, und mit der Möglichkeit von Vergesellschaftungen öffnen wir den Instrumentenkasten, um wirksam gegenzuhalten, übrigens in Einvernehmen mit unserem Koalitionspartner der CDU. Unser Vorschlag geht auf die Väter und Mütter des Grundgesetzes zurück, ist also ausdrücklich in unserer Verfassung vorgesehen.

Sie beziehen sich auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der regelt, dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel per Gesetz gegen eine Entschädigung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können. Allerdings ist dieser Artikel bisher nie angewendet worden.

Richtig, Artikel 15 ist ein schlafender Riese, der bisher nie geweckt worden ist. Er ist entstanden, weil sich Sozialdemokraten bei der Entstehung des Grundgesetzes dafür eingesetzt haben. Zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde bereits versucht, Artikel 15 zu kippen, beide Male von der FDP. Und beide Male wurde es abgelehnt, auch mithilfe der CDU. Der zentrale Begriff und das Ziel von Artikel 15 des Grundgesetzes ist die Gemeinwirtschaft und die Vergesellschaftung das Mittel. Diese Möglichkeit sollten wir nutzen. Wir brauchen einen Staat, der die Menschen schützt.

Raed
Saleh

In einer sozialen Marktwirtschaft gibt es ein anderes Verständnis der Rolle des Staates. Er hat die Pflicht einzugreifen, wenn etwas schiefläuft.

An welche Güter denken Sie dabei besonders?

Für den sogenannten Mittelstand gilt nicht mehr das, was lange galt: Trotz Beruf und normalem Einkommen können sich die Menschen die Stadt zum& Teil nicht mehr leisten. Das betrifft vor allem die hohen Mieten, aber auch die Kosten für Strom und andere Energie. In nur zehn Jahren sind in Berlin die Angebotsmietpreise um fast 100 Prozent gestiegen, viele Familien zahlen mittlerweile 40 oder 50 Prozent ihres Einkommens nur für die Miete. Es droht eine Verarmung des Mittelstands, weil man sich das Leben in dieser Gesellschaft nicht mehr leisten kann. Als Parlament waren uns bislang die Hände gebunden: Das Mietrecht liegt in der Zuständigkeit des Bundes, hat uns das Bundesverfassungsgericht gesagt. Ich bin der Meinung, dass der Markt aber nicht alles regeln darf. In einer sozialen Marktwirtschaft gibt es ein anderes Verständnis der Rolle des Staates. Er hat die Pflicht einzugreifen, wenn etwas schiefläuft. Und das tun wir jetzt mit unserem „Berliner Gemeinwohlgesetz“.

Dass Berlin ein Vergesellschaftungsrahmengesetz bekommen soll, haben Sie bereits im Koalitionsvertrag mit der CDU vereinbart. Wie sieht jetzt der Zeitplan aus?

Ich bin froh, dass es eine schwarz-rote Koalition ist, die dieses Gesetz verabschieden wird. Das schafft Akzeptanz. Ende Juni haben sich die Fraktionsvorstände auf Eckpunkte für das Gesetz geeinigt. Nun haben wir als SPD einen ersten Entwurf vorgelegt. Spätestens im Dezember wollen wir den Gesetzentwurf ins Abgeordnetenhaus einbringen, sodass wir ihn im Mai, rechtzeitig vor der Wahl im Herbst, beschließen können.Zwei Jahre danach soll das Gesetz dann in Kraft treten, damit es vorhe genug Zeit gibt, mögliche rechtliche Fragen zu klären. Wir schaffen kein Gesetz für diese Koalition, sondern für zukünftige Generationen.

Kritiker*innen sagen, ein solches Gesetz könnte Unternehmen aus Berlin vergraulen. Teilen Sie die Sorge?

Nein. Es geht vielmehr darum, die Wirtschaft bei uns zu unterstützen und weiter zu stärken, indem faire Wettbewerbsregeln gelten. Wir reden mit dem Koalitionspartner über solche Konzerne, deren Geschäftsgebaren einen dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf aufzeigt. Es geht darum, bei denen, die sich nicht an Recht und Gesetz halten, einzugreifen und zu regulieren. Nicht mehr,aber auch nicht weniger. Und zum Beispiel ist ein fair regulierter Wohnungsmarkt übrigens auch ein Standortvorteil für jedes Berliner Unternehmen.

Raed
Saleh

Wir müssen den Menschen endlich zeigen, dass der Staat handlungs- und interventionsfähig ist, wenn es klare Fehlentwicklungen gibt.

Das Gesetz wäre bundesweit einmalig. Setzen Sie auf Nachahmer in anderen Bundesländern?

Ja, davon gehe ich sogar fest aus. Berlin ist mit seinen Problemen insbesondere auf dem Wohnungsmarkt ja nicht allein. Überall ist insbesondere die Mittelschicht inzwischen unter Druck. Deshalb bin ich sicher, dass das, worüber wir gerade in Berlin diskutieren, bundesweit Nachahmer finden wird. In anderen Bundesländern, in anderen Städten, in anderen Kommunen wird man sich das, was wir in Berlin machen, genau ansehen und darüber diskutieren, ob es nicht auch dort eine Möglichkeit ist, gegenzuhalten, bevor es zu sozialen Verwerfungen kommt. Wir müssen den Menschen endlich zeigen, dass der Staat handlungs- und interventionsfähig ist, wenn es klare Fehlentwicklungen gibt.Deshalb fände ich es auch sinnvoll und notwendig, wenn die SPD diese Frage im Zuge ihres Prozesses für ein neues Grundsatzprogramm diskutiert und die Verteilungsfrage dann auch Teil des Programms wird.

Wieso?

Die Verteilungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit. Knapp 4.000 Superreiche in Deutschland besitzen ein Drittel des gesamten Finanzvermögens, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Darauf muss doch die SPD eine Antwort finden, wenn sie noch eine Chance haben will, die Schieflage und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu überwinden. Eine gerechte Erbschafts- und Vermögensteuer, eine starke Daseinsvorsorge – diese Themen müssen wir glaubhaft adressieren. Denn wenn wir es& nicht tun, dann tun es andere und das wird dann keine sozialdemokratische Antwort sein. Die Grundwertekommission hat hier bereits wichtige Dinge erkannt und festgehalten. Ich denke, das kann eine gute Grundlage sein für das, was wir für unser neues Grundsatzprogramm intensiv diskutieren und aufnehmen sollten.

Der Gesprächspartner

Raed Saleh ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Von 2020 bis 2024 war er zudem Co-Vorsitzender der Berliner SPD.

Porträt von Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Mi., 23.07.2025 - 13:56

Permalink

höherwertigen Wirtschaftsgütern abschaffen. Wohnungen gehören in staatliche Hand und müssen gerecht verteilt werden. Auch anderes, wie Grundbesitz, Besitz an Rohstoffen, Schmuck, Kunst , Sammlerbriefmarken und Münzen sowie ähnliches mehr von Wert, muss verstaatlicht werden

Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.