Parteileben

Christine Bergmann: Warum in der Politik ein langer Atem enorm wichtig ist

SPD-Politikerin Christine Bergmann wird 80. Als Ostdeutsche habe sie erlebt, dass sich Dinge trotz schwieriger Zeiten positiv entwickeln können, sagt sie. Ein Interview über die Zukunft der SPD, das Erstarken der Rechten in Ostdeutschland und warum ein Paritätsgesetz notwendig ist
von Vera Rosigkeit · 6. September 2019

Frau Bergmann, zurzeit sind Sie Wahlvorstand im Auswahlverfahren um den neuen Parteivorsitz. Was motiviert Sie, immer noch politisch aktiv zu sein?

Das ist meine Partei, die mir sehr am Herzen liegt.

Wie schätzen Sie derzeit die Situation der SPD ein?

Wie viele andere auch mache ich mir Sorgen, aber ich bin nicht resigniert. Als Ostdeutsche habe ich erlebt, dass sich Dinge trotz schwieriger Zeiten positiv entwickeln können. Meine Partei hat so viele wichtige Themen. Wenn wir uns darauf besinnen und vor allem an einem Strang ziehen, dann wird es wieder bergauf gehen. Auch gibt es nun ein Verfahren für die Wahl eines neuen Vorsitzes und das müssen wir nutzen. Die Kandidatenvorstellung kann eine gute Gelegenheit sein, Angebote zu machen und wieder positive Botschaften zu senden.

Welche Themen sind Ihrer Meinung nach aktuell sehr wichtig?

Beim Thema Arbeit liegt gerade viel auf dem Tisch. Die vielen unsicheren Arbeitsverhältnisse, die mit der Digitalisierung nicht weniger werden zum Beispiel. Dem sollten wir uns intensiv zuwenden, denn wir brauchen Stabilisierung, besonders im Strukturwandel. Aber auch Rechte und die Gleichstellung von Frauen und von Menschen, die zu uns gekommen sind, sind wichtige Themen für die SPD. Damit verbunden: der respektvolle Umgang miteinander.

Für die Gleichstellung von Frauen haben Sie sich als Familienministerin in der Schröder-Regierung besonders engagiert. Sie haben sich für die Quote in Aufsichtsräten starkgemacht und nicht auf Freiwilligkeit gesetzt. Wo standen wir damals, wo stehen wir heute?

Meine Erfahrung zeigt, dass uns Freiwilligkeit nicht ans Ziel gebracht hat. Deshalb brauchen wir dieses Instrument, das immer gerne diskreditiert wird, obgleich es Tausende von anderen Quoten gibt, die nur nie so benannt werden. Auch wenn wir frauenpolitisch weitergekommen sind, hat sich die Situation sowohl im Bundestag als auch in den Landesparlamenten in den letzten 20 Jahren sogar verschlechtert. Wieder diskutieren wir über eine Quote. Nur dort, wo die Parteien Quoten haben – bei den Grünen, den Linken und in der SPD – stimmt das Verhältnis der paritätischen Besetzung, bei den konservativen Parteien aber eben gar nicht. Deshalb bin ich sehr für ein Paritätsgesetz.

Zurück zum Thema Arbeit. Sind die hierzulande unsicheren Arbeitsverhältnisse etwas, was Menschen in Ostdeutschland besonders verunsichert?

Auf jeden Fall, das ist nach den dramatischen Arbeitsplatzverlusten nach der Friedlichen Revolution nachzuvollziehen. Ein besonders leidiges Problem ist, dass es noch keine Gerechtigkeit zwischen Ost und West beim Entgelt gibt. Nicht hinzunehmen ist auch, dass Berufe, die die Pflege von Menschen im Mittelpunkt haben, schlechter entlohnt werden als die Arbeit an der Werkbank. Es ist gut, dass meine Partei derzeit für bessere Löhne in der Pflege streitet und eine Grundrente fordert, denn diese Themen betreffen Frauen ganz besonders.

Aber offensichtlich scheint die SPD mit diesen Themen im Osten nicht so gut zu punkten.

Auch mich treibt die Frage um, wieso es möglich ist, dass nach 30 Jahren wieder alle Ost-West-Vorurteile zutage treten und die AfD versuchen kann, das Erbe der Friedlichen Revolution für ihre Zwecke zu missbrauchen. Sie schürt Ängste und das Verlierer-Gefühl. Es ist ja nicht so, dass es im Osten nur Verlierer gibt. Gewonnen haben wir doch alle: Wir haben eine Diktatur beseitigt und Demokratie gewonnen, Freiheit und Möglichkeiten. Und wir haben viel geleistet, denn im Grunde musste jeder und jede ganz neu Fuß fassen. Darauf können wir doch stolz sein.

Haben Sie eine Erklärung für diese eher aggressive Stimmung?

Natürlich hat es Versäumnisse in der Politik gegeben, dennoch gibt es Möglichkeiten der politischen Auseinandersetzung jenseits von Aggressivität und Hass. Ich habe 40 Jahre DDR erlebt und fand es schrecklich, nur in der Ecke zu stehen und zu meckern. Das müssen wir nicht mehr. Aber vielleicht haben wir uns zu wenig auseinandergesetzt über das Erbe aus zwei Diktaturen und der damit verbundenen Frage, was diese ständige Bevormundung mit Menschen macht. Das ist vielleicht ein Teil der Erklärung dieser derzeit schwierigen Gemengelage.

Sie selbst kommen aus der DDR, haben eine wechselvolle politische Laufbahn. Wie sind Sie zur SPD gekommen?

1963 bin ich aus Dresden nach Berlin gekommen. Wir sind quasi jede Nacht ausgewandert. Mit der Abend- und der Tagesschau waren wir eigentlich im Westen und haben verfolgt, was in der Welt geschieht.

In jungen Jahren hatte ich die Hoffnung, dass sich in der DDR etwas ändert, indem wir versuchen, das eine oder andere liberaler zu gestalten. Auch gab es die Hoffnung auf Demokratisierung vom Westen her, durch den Wandel durch Annäherung und die Politik der kleinen Schritte. Mit Willy Brandt und den Ostverträgen haben wir damals große Hoffnungen verknüpft.

Als im Herbst 1989 in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg das Statut der SDP samt Kontaktadressen aushing, habe ich an meinem damaligen Wohnort in Kaulsdorf und Hellersdorf mitgeholfen, die SPD aufzubauen. In der ersten Fraktionssitzung im Mai 1990 ging es u.a. darum, wer die Stadtverordnetenversammlung übernimmt, denn wir waren damals die stärkste Fraktion in Ost-Berlin. Es sollte eine Frau sein und die Wahl fiel auf mich. In meinen ursprünglichen Beruf als Pharmazeutin bin ich nie wieder zurückgekehrt.

Welches Thema zieht sich durch ihren politischen Lebenslauf?

Das Thema häusliche Gewalt war in der DDR absolut tabuisiert. Es gab weder Frauenhäuser noch Beratungseinrichtungen. Als wir 1990 das erste Frauenhaus in Prenzlauer Berg aufmachten, war das über Nacht voll.

In meiner Zeit als Senatorin für Arbeit und Frauen hatten wir in Berlin einen Senat mit hohem Frauenanteil. Damals haben wir mit dem Berliner Interventionsprojekt zur häuslichen Gewalt die Weichen neu gestellt. Es ging nicht mehr nur darum, Frauen zu schützen und Frauenhäuser zur Verfügung zu stellen, sondern auch darum, in der Gesellschaft etwas zu verändern. Gewalt gegen Frauen sollte kein Kavaliersdelikt mehr sein, Männer mussten sich bekennen. Das war der Vorläufer für das Gewaltschutzgesetz, das wir später gemeinsam mit Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin auf Bundesebene umgesetzt haben.

Überhaupt sind die großen gesellschaftlichen Veränderungen in der Gesellschaft unter Rot-Grün entstanden. Ob Lebenspartnerschaftsgesetz oder gewaltfreie Erziehung, alles war sehr umkämpft und die Union hat dem nicht zugestimmt. Aber es war so wichtig, da schon anzufangen.

Sie sind noch immer sehr engagiert, was treibt Sie noch um?

Das Thema sexualisierte Gewalt hat mich weiter begleitet, auch als ich aus der Politik schon raus war. 2010, nach dem Skandal zum sexualisierten Kindesmissbrauch, wurde ich gefragt, ob ich als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs im Auftrag der Bundesregierung tätig werden kann. Da bekam ich eine Vorstellung davon, wieviel Menschen sexualisierte Gewalt in der Kindheitserfahren haben, nicht sprechen konnten und noch nach Jahrzehnten unter den Folgen leiden. In eineinhalb Jahren haben wir 20.000 Anrufe erhalten. Im Mittelpunkt stand auch die Frage, welche Hilfen diese Menschen heute noch brauchen und wie sich diese Gewalt in Zukunft verhindern lässt. Diese Geschichten haben mich nicht mehr losgelassen.

Seit 2016 gibt es nun die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch. Da arbeite ich weiter mit. Inzwischen haben wir schon einiges erreicht, um die Gesellschaft zu sensibilisieren. Für mich ist dieser langwierige Prozess ein Beispiel, dass man nicht in Legislaturperioden denken kann und wie enorm wichtig auch in der Politik der lange Atem ist.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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