Inland

Rechte Gewalt: Erkennen Behörden rassistische Straftaten zu selten?

Die Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt stellen in Berlin ihre Bilanz für das Jahr 2022 vor. Sie mahnen: Polizei und Gerichte müssen in einer bestimmten Sache noch besser werden.
von Sebastian Thomas · 9. Mai 2023
Die Opferstatistik zählt für 2022 ein Todesopfer: Malte C.Der trans* Mann starb am 2. September 2022, als er sich bei einem queerfeindlich motivierten Angriff beim CSD in Münster dazwischenging und dabei tödliche verletzt wurde.
Die Opferstatistik zählt für 2022 ein Todesopfer: Malte C.Der trans* Mann starb am 2. September 2022, als er sich bei einem queerfeindlich motivierten Angriff beim CSD in Münster dazwischenging und dabei tödliche verletzt wurde.

Es ist ein düsteres Bild: Allein im Jahr 2022 wurden täglich bis zu fünf Menschen Opfer rechter Gewalt – und das in zehn von 16 Bundesländern. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 2.093 rechte, rassistische und antisemitisch motivierte Straftaten in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Ostdeutschland registriert. Das geht aus der Jahresbilanz der Opferberatungen hevor, die am Dienstag vorgestellt wurde. Dabei erreichte die Opferzahl 2022 mit „2.871 Betroffenen einen erneuten Höchststand“, erklärte Robert Kusche, Vorstandsmitglied im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), am Dienstag auf einer Bundespressekonferenz.

Anstieg um 15 Prozent bei rechten Gewalttaten – ein Todesfall

Dabei hat sich die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendliche mit 520 im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. In der Untersuchung verzeichneten die Expert*innen einen Anstieg von mehr als 15 Prozent bei rechten Gewalttaten – insbesondere Körperverletzungsdelikten. Besonders erschütternd: ein Todesfall. „Menschen, die sich offen zur LGBTIQA*+ Community zählen werden massiv angefeindet“, erklärte Kusche. Oder getötet – wie im Fall von Malte C. Der trans* Mann starb am 2. September vergangenen Jahres, als er bei einem queerfeindlich motivierten Angriff beim Christopher-Street-Day in Münster intervenierte und dabei tödliche Verletzungen erlitt. In diesem Bereich haben sich die „trans- und queerfeindliche Angriffe im Vergleich zum Vorjahr auf 174 verdoppelt“, berichtete Robert Kusche.

Noch gravierender ist der Anstieg bei antisemitisch motivierten Angriffen – hier, so die Expert*innen, haben sich die Vorfälle vervierfacht. Besonders besorgniserregend ist abei: „Auf Bedrohungen folgen innerhalb kürzester Zeit schwere Gewalttaten, wie Brandstiftung“, sagte Kusche. Einen klaren Appell richten die Expert*innen direkt an die Strafverfolgungsbehörden: Rassismus sei bei mehr als der Hälfte der Fälle das dominante Tatmotiv. Das gelte es im Kopf zu haben.

Polizei und Gerichte weisen bei Rassismus Kompetenzlücke auf

Doch wiesen Polizei und Gerichte hier eine Kompetenzlücke auf. Dies führe bei den Opfern zu Angst und Ohnmacht sowie bei den Behörden zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Häufig werde „Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben“, erklärt Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der Ombudsstelle zum Berliner Antidiskriminierungsgesetz.

Außerdem würden insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder berücksichtigt. Zwar hätten beispielweise in Berlin und anderen Bundesländern inzwischen bei Polizei und Staatsanwaltschaften Beauftragte für Antisemitismus und insbesondere in Berlin auch für Hasskriminalität gegen LSBTI zu Sensibilisierung in den Behörden beigetragen.

Dabei konnten laut Doris Liebscher auch Fortschritte bei der Strafverfolgung und Erkennung verzeichnet werden – jedoch: Es „besteht beim Thema Rassismus eine große Lücke.“ Mehr noch: „Es fehlen flächendeckend Rassismus-Beauftragte bei Polizei und Justiz.“ Das führe unweigerlich dazu, dass das Vertrauen von Angegriffenen in den Rechtsstaat fundamental erschüttert werde.

Erschütternder Fall von Dilan S.

An dieser Stelle wies Liebscher auf den Fall von Dilan S hin. Die Schülerin wurde im Februar 2022 Opfer eines rassistischen Angriffs. Sie hatte in einer Berliner Straßenbahn eine Gruppe Erwachsener – aus dem rechten Hooliganspektrum, wie sich später herausstellte – aufgefordert, eine Maske zum Schutz gegen das Corona-Virus zu tragen. Daraufhin wurde sie von der Gruppe angegriffen und verletzt.

Die rassitische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer übernahm die Polizei in einer ersten Pressemitteilung: Die Schülerin galt als Maskenverweigerin, selbst verantwortlich für die den Angriff. Im Krankenhaus veröffentlichte Dilan S. eine Richtigstellung auf Instagram – erst dann wurde gegen die Täter*innen ermittelt. „Vor Gericht wiederholte sich die Relativierung“, kritisierte Doris Liebscher.

Die Richterin sei nicht angemessen auf das rechte Umfeld und einschlägige Vorstraften der Angeklagten eingegangen. Für sie sei der Angriff eine „berlintypische Auseinandersetzung“ gewesen. „Die Richterin bewertete die psychologischen Folgen des rassistischen Angriffs als nicht strafschärfend“, erklärte die Juristin. Neben einer Rassismusbeauftragten müsse es „auch eine Beschwerdestelle, wie meine Ombudsstelle, geben“, forderte sie deshalb.

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