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Nach dem Warnruf: So will die SPD die Kinder- und Jugendhilfe stärken

Sozialverbände und Vereine sehen die Kinder- und Jugendhilfe am Abgrund. Warum die SPD-Familienpolitikerin Ulrike Bahr die Lage anders einschätzt und wie sie Probleme entschärfen will.

von Nils Michaelis · 30. April 2024
Jugendliche in Betreuungseinrichtung

Die Plätze sind knapp: Eine Jugendliche in einer Betreuungseinrichtung in Nordrhein-Westfalen.

Deutschlands Kinder- und Jugendhilfe steht vor dem Kollaps. Diesen Warnruf sendete jüngst der Nationale Kinderschutzgipfel, der unter anderem von der Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst und SOS Kinderdorf initiiert wurde. Der zentrale Grund sei der Fachkräftemangel. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Ich würde nicht von einem Kollaps reden, sondern von einer schwierigen Situation. Die Corona-Pandemie und andere Krisen haben das wie unter einem Brennglas deutlich gemacht. Seitdem sind die Herausforderungen gewachsen. 

Viel mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Belastungen. Wir haben uns zu spät mit den Folgen von Corona-Maßnahmen beschäftigt, die gerade junge Menschen belastet haben. Diese Folgen müssen wir nun händeln. Wir müssen Strukturen anpassen, um Betroffene besser zu unterstützen.

Der Fachkräftemangel ist schon lange ein großes Problem. Durch die jüngsten Krisen hat es sich verschärft. Allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Wir müssen nach vorne schauen und die Probleme pragmatisch und Schritt für Schritt lösen. 

Sie haben an dem Nationalen Kinderschutzgipfel teilgenommen. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse daraus?

Viele Beschäftigte in Jugendämtern und Betreuungseinrichtungen sind ausgebrannt. Jedem muss klar sein, was für eine wertvolle Arbeit sie leisten. Bei den Trägern sind Lohnsicherheit und die Refinanzierung von Tarifsteigerungen ein wichtiges Thema. 

Für den Allgemeinen Sozialen Dienst und die Jugendämter braucht es eine Imagekampagne. Viele sehen diese Behörde sehr kritisch. Bis hin zu dem Punkt, dass sich Familien nicht ans Jugendamt wenden, weil Eltern befürchten, man wolle ihnen das Kind wegnehmen. 

Wichtig ist, dass der Kinder- und Jugendschutz allerorten gewährleistet ist. Bei dem Gipfel wurde berichtet, dass die Lage mancherorts so angespannt ist, dass Beschäftigte des Jugendamtes Kinder oder Jugendliche vorübergehend privat in Obhut nehmen. So weit darf es nicht kommen.

„Den Zugang für ausländische Fachkräfte erleichtern"

Wegen des Fachkräftemangels in vielen Jugendämtern und fehlender Plätze in der Langzeitbetreuung droht für viele Kinder und Jugendliche eine Unterversorgung, so der Tenor des Gipfels. Was kann die Bundespolitik tun, um die Kinder- und Jugendhilfe, die Sache der Kommunen ist, zu stärken?

Kommunen, Länder und der Bund tragen eine gemeinsame Verantwortung und müssen sich zusammentun. Klar ist aber auch: Die Zuständigkeit für die Finanzierung liegt bei den Kommunen. Deren finanzielle Möglichkeiten wollen wir stärken. Deswegen sollte man über eine Lösung für die Problematik der Altschulden reden. Außerdem wäre zu schauen, in welchen Bereichen man Jugendämter entlasten könnte, etwa bei der Dokumentationspflicht.

Um die Personalsituation in der Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern, hat das Bundesfamilienministerium eine Fachkräfteoffensive für Erzieher*innen gestartet. Die SPD-Fraktion unterstützt das. Ich halte es für wichtig, ausländischen Fachkräften den Zugang zur deutschen oder zu einer doppelten Staatsbürgerschaft zu erleichtern und ausländische Abschlüsse einfacher anzuerkennen. Ferner müssen wir den Quereinstieg einfacher machen. 

Damit mehr Stellen in Betreuungseinrichtungen besetzt werden, braucht es Tarifsicherheit und Tarifverträge. Fachkräfte gewinnt man durch attraktive Arbeitsbedingungen. Wir können es nicht hinnehmen, dass sich viele Beschäftigte selbst ausbeuten.

Ämter in Not

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr wirbt dafür, Jugendämter zu entlasten.

Ulrike Bahr ist Vorsitzende des Familienausschusses

Sind fehlende Betreuungsplätze allein mit dem Fachkräftemangel zu erklären?

Nein. Es gibt auch Finanzierungsfragen. Zusätzliche Stellen für ein Mehr an Betreuung kosten Geld. Hier braucht es Sofortmaßnahmen. Diese wurden auch beim Kinderschutzgipfel gefordert. Um die Infrastruktur für Kinder und Jugendliche zu erhalten oder auszubauen, wird es ohne neue Stellen nicht gehen.

Offenbar ist die Situation von Kommune zu Kommune unterschiedlich. Während der Kinder- und Jugendhilfe in Stuttgart ein gutes Zeugnis ausgestellt wird, ist es bei Berlin oder Mönchengladbach ganz anders. Wie ist das zu erklären? 

Das hängt auch mit der finanziellen Lage der jeweiligen Kommune zusammen. Auch die Herausforderungen und Fallzahlen variieren. All das wirkt sich auf den Arbeitsalltag in den Jugendämtern und die Belastung der Mitarbeiter*innen aus. Dort, wo heile Welt herrscht, ist der Bedarf an zusätzlichen Mitarbeiter*innen vermutlich geringer als in Orten, wo die Problemlage eine andere ist.

„Wir brauchen mehr Familienstützpunkte"

Soll das heißen, dass die Kinder- und Jugendhilfe in reichen Kommunen rein budgetmäßig generell besser dasteht als in klammen?

Das kann man so nicht sagen. Diesen Automatismus gibt es nicht. Eine wohlhabende Kommune hat aber zumindest die Möglichkeit, viel oder mehr Geld in die Kinder- und Jugendhilfe zu stecken. Wie Städte und Gemeinden mit ihren Finanzen umgehen, ist letztendlich eine politische Entscheidung.

Welche Strategie verfolgt die SPD-Bundestagsfraktion, um in Not geratene Kinder und Jugendliche besser zu unterstützen?

Wir möchten, dass die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Das wäre eine wichtige Voraussetzung für anderweitige Verbesserungen. Wegen des Widerstandes der Unionsfraktion gibt es derzeit nicht die dafür nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag.

Bei der Gesetzgebung haben wir einen Jugendcheck eingeführt. Alle Gesetzesvorhaben werden daraufhin geprüft, welche Auswirkungen sie für die nachwachsende Generation haben. 

Manch einer oder eine fordert eine Kinderbeauftragte in der Bundesregierung. Ich finde, wir sollten uns lieber um praktische Veränderungen bemühen, anstatt einen Posten zu schaffen, der vielleicht nur eine Alibifunktion erfüllt.

Wir brauchen mehr präventive Angebote, zum Beispiel Familienstützpunkte und niedrigschwellige Anlaufstellen, an die sich Kinder und Jugendliche direkt wenden können.

„Viele Familien von Kindern mit Behinderung kämpfen mit der Bürokratie"

Am Ende der letzten Legislaturperiode hat der Bund die Kinder- und Jugendhilfe reformiert. Was sind die wichtigsten Erfolge? 

2021 hat die Koalition aus SPD und CDU/CSU einen Paradigmenwechsel erreicht. Kinder und Familien wurden gestärkt. Wer Hilfe und Schutz braucht, muss mit dem Jugendamt auf Augenhöhe agieren können. Die Betroffenen haben Partizipationsrechte. Durch die Reform wurden ihre Rechtsansprüche erweitert.  

Früher wurde jungen Leuten, die in Pflegefamilien oder Betreuungseinrichtungen aufgewachsen sind, mit Erreichen der Volljährigkeit der Koffer vor die Tür gestellt. Heute läuft die Unterstützung weiter, etwa im Bereich der Ausbildung. Auch die Ausweitung der Infrastruktur wurde gesetzlich festgeschrieben, zum Beispiel die Schulsozialarbeit ausdrücklich aufgenommen und die Hilfen für Familien in Notsituationen einfacher zugänglich gemacht. 

Wie geht es weiter?

Zur Jahresmitte hat das Bundesfamilienministerium einen Gesetzentwurf zur inklusiven Jugendhilfe angekündigt. Viele Familien von Kindern mit Behinderung kämpfen mit der Bürokratie oder fallen durchs Raster. Ihnen soll das Leben künftig einfacher gemacht werden, indem alle Kinder von den Regelungen gemäß Sozialgesetzbuch 8 profitieren und so zu ihrem Recht kommen. 

Ich hoffe, dass wir mit diesem Reformschritt auch Lücken im Leistungsrecht schließen können und damit bessere Bedingungen für die freien Träger und ihre Mitarbeitenden schaffen. Auch Fallzahlbegrenzungen für den Allgemeinen Sozialen Dienst und im Bereich der Vormundschaften wären sinnvoll und sollten diskutiert werden. 

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr ist Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 

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