Nach dem Bahn-Streik: „Wichtig sind jetzt verhandlungsfähige Angebote“
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Am Montag hat ein bundesweiter Streik der EVG stattgefunden. Nicht nur der Fernverkehr wurde eingestellt. War das nötig?
Kristian Loroch: Von Anfang an war klar, dass es sich unsere Kolleginnen und Kollegen, in allen 50 Unternehmen, mit denen wir derzeit verhandeln, nicht gefallen lassen werden, wenn die Arbeitgeber meinen, sie mit Angeboten hinhalten zu können, die den Namen nicht verdienen. Dazu ist die Lage viel zu ernst. Die finanzielle Situation ist für viele Mitarbeitenden mittlerweile sehr angespannt. Unser Auftrag ist es, die dringend notwendige Lohnerhöhung durchzusetzen. Das wollen wir am Verhandlungstisch tun, doch die Arbeitgeber verweigern sich – und nehmen in Kauf, dass ihre Kunden, die Reisenden, unter ihrer Uneinsichtigkeit zu leiden haben. Wir streiken übrigens auch für die Zukunft der Eisenbahnen und Busbetriebe in Deutschland. Nur mit mehr und besser bezahlten Personal kann der Verkehr auf der Schiene den hohen Erwartungen gerecht werden. Deshalb streiken wir jetzt auch für die Reisenden.
Die EVG ist mit der Forderung nach einer Lohnsteigerung von zwölf Prozent, mindestens aber 650 Euro pro Monat in die Tarifverhandlungen gegangen. Es ist die höchste in der Geschichte der EVG. Sind die Forderungen gerechtfertigt?
Loroch: Für unsere Forderung gibt es mehrere Gründe. Zum einen alarmiert uns das Thema Fachkräftemangel schon länger, auch schon weit vor Beginn der Corona-Pandemie. Manch einer erinnert sich vielleicht an die Situation im August 2013 als im Stellwerk in Mainz vier Fahrdienstleiter gleichzeitig krank waren und das Auswirkungen auf die halbe Republik hatte. Um Fachkräfte bei der Bahn zu halten und neue zu gewinnen, müssen aber vernünftige Löhne gezahlt werden. Zum anderen haben die Beschäftigten in der Corona-Zeit deutliche Lohn-Zurückhaltung geübt. Mit dem „Bündnis für unsere Bahn“ haben Beschäftigte und Unternehmen damals gemeinsam die Lasten der Krise geschultert und Arbeitsplätze gesichert. Nun haben wir aber eine Situation, in der zum einen die Preise wegen der Inflation deutlich steigen und zum anderen die Belastungen die Beschäftigten stark zugenommen haben, Stichwort Neun-Euro-Ticket. Vor diesem Hintergrund sind unsere Forderungen mehr als gerechtfertigt.
Cosima Ingenschay: Unsere Mitglieder konnten entscheiden, ob wir wieder eine rein prozentuale Erhöhung mit einem Mindestbetrag fordern sollen oder erstmals einen Festbetrag, der an alle Lohngruppen ausgezahlt wird. Am Ende hat sich eine Mehrheit für die prozentuale Erhöhung mit Mindestbetrag ausgesprochen. Diese Diskussion zeigt, dass wir es bei diesen Tarifverhandlungen mit einer besonderen Situation zu tun haben.
Stichwort Fachkräftemangel: Es verlassen tatsächlich Beschäftigte die Bahn, weil sie woanders mehr verdienen?
Ingenschay: Ja. Die Fluktuation ist insbesondere bei der DB AG deutlich größer als vor Corona. Da gibt es sicher auch noch gewisse Nachholeffekte, die Abwanderung ist da erheblich höher als in anderen Branchen. Beim Sicherheitspersonal können inzwischen regelmäßig Schichten nicht besetzt werden, weil das Personal fehlt. Auch bei Bau-Ingenieuren ist die Personaldecke bereits sehr dünn. Als EVG sehen wir das auch in der Mitglieder-Entwicklung: Wir verlieren Mitglieder nicht, weil sie austreten, sondern weil sie in Bereiche wechseln, in denen wir als Gewerkschaft nicht mehr für sie zuständig sind.
Wie reagiert die Bahn bisher darauf?
Ingenschay: Indem sie in besonders gefragten Berufsgruppen zunehmend übertarifliche Zulagen zahlt. Das ist für uns als Gewerkschaft natürlich nicht der richtige Weg, weil damit die Lohnspreizung immer weiter zunimmt. Die Personalverantwortlichen bei der Bahn hoffen sogar darauf, dass wir eine ordentliche Lohnerhöhung rausholen, weil sie auch sehen, dass ihnen die Beschäftigten mehr und mehr davonlaufen.
Loroch: Das zeigt ja, dass die Bahn-Führung das Problem insgesamt erkennt. Sie unterschätzt dessen Dynamik aber grandios. Deshalb reagiert sie mit Strategien, die wenig nachhaltig sind. Die Konzernspitze hat aus ihrer Sicht systemrelevante Bereiche ausgemacht, in denen sie mit der Zahlung von Zulagen agiert. In anderen tut sie dagegen nichts. Das ist nicht nur kurzsichtig, sondern bring auch Unfrieden in die Belegschaft.
Ein Punkt, der der EVG wichtig ist, ist die Zahlung von 12 Euro Mindestlohn. Warum ist das ein Thema? Der ist doch eigentlich gesetzlich geregelt.
Ingenschay: Scheinbar ist das so, ja. Die Bahn erreicht das aber in manchen Gehaltsgruppen nur über Zusatzzahlungen. In der Gehaltstabelle liegen die Löhne dagegen unter 12 Euro. Das müssen wir endlich ändern – und zwar so, dass die Anpassung nicht auf die Tariferhöhung angerechnet wird, wie es sich die Bahn vorstellt.
Wir reden viel über „die Bahn“. Sie verhandeln ja aber diesmal erstmals mit rund 50 Unternehmen gleichzeitig. Ist das ein Vorteil?
Loroch: Wir haben zwar über die Laufzeit von Tarifverträgen darauf hingearbeitet, aber uns wäre es auch lieber, wenn sich die Bahn-Unternehmen in einem Arbeitgeberverband zusammengeschlossen hätten. Und es wäre noch schöner, wenn es einen Branchentarifvertrag geben würde. Der würde nicht alle Probleme lösen, aber vieles an Spaltung und Miteinander-im-Wettbewerb-stehen würde dadurch verschwinden. Ich sehe hier die DB AG in der Pflicht. Für uns als Gewerkschaft ist es natürlich herausfordernd, mit so vielen Unternehmen gleichzeitig zu verhandeln. Es ist aber die einzige Chance, auf die beschriebene Situation angemessen zu reagieren.
Ingenschay: Für uns als Gewerkschaft ist das gemeinsame Verhandeln entscheidend. Wir sind in den vergangenen Jahren leider immer wieder in Situationen gekommen, in denen die Ausschreibung von Strecken von einem Unternehmen gewonnen wird, das ein günstigeres Angebot machen konnte, weil die Beschäftigten zu schlechteren Bedingungen arbeiten als in anderen Unternehmen. Diesen Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten wollen und müssen wir beenden. Dafür sehe ich jetzt eine sehr gute Chance.
Sie haben bereits vor Beginn der Verhandlungen betont, auf „Tariffolklore“ verzichten zu wollen. Was meinen Ihr konkret?
Ingenschay: Ein wichtiger Punkt war, dass wir direkt vom ersten Verhandlungstag an über Inhalte reden und uns das übliche Vortragen von Grundpositionen ersparen wollten. Das wollte der Arbeitgeber leider nicht mitmachen. Wir wollen eine andere Verhandlungskultur, indem wir etwa in Arbeitsgruppen inhaltliche Vorschläge erarbeiten und nicht alles unter den Verhandlungsführern ausmachen.
War dieses Unverständnis auf Seiten der Bahn auch der Grund, den ersten Verhandlungstag nach nur zwei Stunden zu beenden?
Loroch: Ja, weil wir gesehen haben, dass der Arbeitgeber überhaupt nicht bereit ist, sich auf diese andere Arbeitsweise einzustellen. So haben Verhandlungen aus unserer Sicht keinen Sinn ergeben.
Neu ist auch, dass die EVG erstmals mit einer Doppelspitze verhandelt. Wie ist es dazu gekommen?
Loroch: Wir leben in einer Welt der Transparenz und wollen nicht, dass unter vier Augen verhandelt wird. Stattdessen sollen die Dinge mit denen besprochen werden, die gleichberechtigt in der EVG mit den Themen rund um die Tarifverhandlungen betraut sind – und das sind Cosima und ich. Bahn-Personalvorstand Martin Seiler wird von mir nie eine andere Antwort kriegen als von ihr und umgekehrt. Allerdings ist das für alle Seiten noch ein Lernvorgang.
Ingenschay: Wir haben bei vorangegangen Tarifverhandlungen auch gemerkt, dass es sinnvoll ist, innerhalb des Geschäftsführenden Vorstands der EVG einen Sparringspartner zu haben. Das funktioniert nur, wenn sich zwei mit einem Thema auskennen und sich darum kümmern. Bei Tarifverhandlungen geht es ja auch nicht nur ums Geld. Das Thema ist deutlich komplexer. Kristian kümmert sich eher um die betriebliche Mitbestimmung, ich um die sozialpolitischen Themen. Wir kriegen das sehr gut zusammen hin.
Die Frage, die über die Bahn hinaus sie meisten interessiert: Wann droht der nächste Streik?
Loroch: Wir sind gleich am Mittwoch in die zweite Verhandlungsrunde eingestiegen. Das erste Unternehmen, mit dem wir verhandelt haben war die Schieneninfrastruktur Ost-Niedersachsen, am Donnerstag hatten wir einen Verhandlungstermin mit der Osthannoverschen Eisenbahnen AG. Die Tage rund um Ostern verhandeln wir nicht. Wer verhandelt, muss auch streiken können. Das wollen wir rund um die Feiertage ausschließen. Denn wir wollen mit einem Arbeitskampf ja die Arbeitgeber und nicht die Reisenden treffen. Wichtig sind jetzt verhandlungsfähige Angebote. Gibt es da wieder eine Hängepartie, können wir nichts ausschließen.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.