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Demokratie: Warum Kommunen verstärkt auf Bürgerräte setzen

Das Instrument der losbasierten Bürgerräte setzt sich in deutschen Kommunen zunehmend durch. Das zeigt eine Analyse mit Daten zu fast 300 Verfahren. Der Verband Mehr Demokratie hat sie gemeinsam mit der Universität Wuppertal erstellt.

von Carl-Friedrich Höck · 30. Oktober 2024
Oberhausener Bürgerforum 2019 mit dem Bürgerrat und dem Oberbürgermeister.

Oberhausener Bürgerforum 2019 mit dem Bürgerrat und dem Oberbürgermeister.

Bürgerräte erleben in deutschen Kommunen einen kleinen Boom. Konkrete Zahlen dazu liefert eine neue Datenbank des Vereins Mehr Demokratie und des Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) der Uni Wuppertal. Gemeinsam haben sie am Mittwoch einen ersten, umfassenden Bericht zum Thema vorgestellt.

Die Datenbank erfasst alle bekannten Verfahren seit dem Jahr 1972. Knapp 300 konnten gezählt werden. Was beim Blick in die Statistik auffällt: Jahrelang führten die Bürgerräte ein politisches Nischendasein, in den 2010er Jahren wurden durchschnittlich sechs solche Gremien pro Jahr ins Leben gerufen. Im Jahr 2020 schoss die Zahl dann plötzlich in die Höhe. Seitdem werden fast 30 neue Verfahren pro Jahr gestartet.

Mehr Verfahren als andere Länder

Damit habe die Bundesrepublik im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle übernommen, meint Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie: „Deutschland ist Weltmeister der losbasierten Beteiligung.“

In den allermeisten Fällen behandeln Bürgerräte kommunale Angelegenheiten. Sie böten die Möglichkeit, „komplementär zu den üblichen parlamentarischen Beteiligungsverfahren“ Bürgerinnen und Bürger an den wichtigen Themen der Stadt oder Gemeinde zu beteiligen und Ideen zu entwickeln, erklärte Professor Detlef Sack vom IDPF am Mittwoch in einem Pressegespräch. Es gehe zum Beispiel um Stadtplanung, soziale Themen, Kinder und Jugend, Nachhaltigkeit oder Infrastruktur.

Der Bundestag hat bisher nur einen einzigen Bürgerrat eingesetzt, nämlich zum Thema „Ernährung im Wandel“. Daneben gab es bisher 15 bundesweite Verfahren, die von Ministerien oder zivilgesellschaftlichen Akteuren gestartet wurden, und 20 auf Landesebene.

Bürgerräte haben viele Namen

In den 1970er Jahren nannte man die Gremien noch Planungszellen. Auch heute existieren verschiedene Begriffe: etwa Bürgerforum oder Zukunftsdialog. In die Bürgerräte-Datenbank aufgenommen wurden alle Verfahren, die vier Kriterien erfüllen: Die Teilnehmenden werden nach dem Zufallsprinzip ausgelost, sie verhandeln ein politisches Thema, die Beratung findet in strukturierten Gruppendiskussionen statt und am Ende werden Ergebnisse beziehungsweise Empfehlungen vorgelegt, zum Beispiel in Form eines Bürgergutachtens.

Der große Vorteil dieser Methode: Sie bezieht im Idealfall auch die Menschen ein, die sich sonst nicht an kommunalen Debatten beteiligen, vielleicht nicht einmal zur Wahl gehen. Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund, niedrigem Einkommen oder Bildungsgrad sind in anderen Beteiligungsverfahren meistens unterrepräsentiert. In die Bürgerräte werden sie aktiv eingeladen. Zwar gibt es auch Verfahren, in denen man sich erst selbst bewerben muss, um in den Bürgerrat gelost werden zu können. Doch „der Goldstandard ist die Zufallsauswahl bei den Gemeinden“, erklärte Detlef Sack. Hierbei würden Personen über das Melderegister angeschrieben. In 76 Prozent aller Verfahren sei das der Fall.

Nur Papier für die Schublade?

Was ein Bürgerrat bewirkt, hängt stets auch davon ab, wie der Stadt- oder Gemeinderat auf dessen Vorschläge reagiert. „Er ist ein Instrument, dass empfiehlt, aber nicht entscheidet“, betonte Sack. Eine aussagekräftige Statistik, wie oft die Ergebnisse tatsächlich von den Kommunalparlamenten aufgegriffen werden, gibt es bisher nicht. Claudine Nierth von Mehr Demokratie gab sich aber zuversichtlich: Wenn die Politik einen Bürgerrat beauftrage, dann habe sie auch ein Interesse daran, ergänzende Informationen und Empfehlungen für die eigene Urteilsbildung zu erhalten. „Bürgerräte ermöglichen konstruktive Prozesse bei kontroversen Themen und erhöhen die Zufriedenheit bei Bürgerschaft und Politik“, sagte Nierth.

Ob sich erfolgreiche kommunale Modelle 1:1 auf die Bundesebene übertragen lassen, darauf gab es beim Pressegespräch keine eindeutige Antwort. Professor Sack räumte ein, „noch unentschieden“ zu sein. Nierth erläuterte, „wir sind auf Bundesebene noch in der Erprobungsphase“. Sie hoffe, dass es in der kommenden Wahlperiode mehr Projekte im Bund gebe, die man auswerten könne. Die aktuelle Legislatur sei nicht ausreichend genutzt worden. Grundsätzlich traut sie Bürgerräten zu, Diskussionsprozesse zu beschleunigen. Als Beispiel nannte sie das Heizungsgesetz: „Wir würden heute woanders stehen, wenn wir für dieses Thema einen Bürgerrat eingesetzt hätten.“

Weiterführende Informationen:
Bürgerräte-Datenbank: datenbank-buergerraete.info
Bericht „Bürgerräte in Deutschland” (PFD): mehr-demokratie.de

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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2 Kommentare

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Do., 31.10.2024 - 13:04

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so werden wir dem sich ändernden Wahlverhalten gerecht, das mehr und mehr rechtslastig daherkommt. Alos mehr Bürgerräte bedeutet weniger recht

Gespeichert von Sarah Becker (nicht überprüft) am Do., 31.10.2024 - 15:27

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Interessanter Artikel! Es ist wirklich ermutigend zu sehen, dass Kommunen vermehrt auf Bürgerräte setzen, um die Demokratie zu stärken. Bürgerbeteiligung ist ein wichtiger Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Mehr dazu auf hier.