Inland

Corona-Aufarbeitung: Wie Bürgerräte funktionieren und wer mitmachen darf

Im ARD-Sommerinterview forderte Bundeskanzler Olaf Scholz, die Maßnahmen während der Corona-Pandemie durch einen Bürgerrat aufarbeiten zu lassen. Dafür gibt es bereits ein Vorbild.

von Jonas Jordan · 25. Juni 2024
Plenarsitzung im Bundestag: Das Parlament könnte sowohl die Einrichtung eines Bürgerrates als auch einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie beschließen.

Plenarsitzung im Bundestag: Das Parlament könnte sowohl die Einrichtung eines Bürgerrates als auch einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie beschließen.

Welche politischen Maßnahmen während der Corona-Pandemie waren angemessen? Welche haben ihren Zweck verfehlt oder waren im Nachhinein überflüssig? Darüber ist vor Monaten eine politische Debatte in Deutschland entbrannt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich dazu jetzt. Im ARD-Sommerinterview forderte er am Wochenende, die Maßnahmen während der Pandemie durch Bürgerräte aufzuarbeiten. Diese Idee sei ihm „am sympathischsten“. Doch was würde das konkret bedeuten?

Gab es schon einmal einen Bürgerrat in Deutschland?

Ja, erst vor wenigen Monaten stellte der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat seine Empfehlungen vor. Er befasste sich mit dem Themengebiet „Ernährung im Wandel“. Dazu gehörten auch Fragen zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit, den Haltungsbedingungen von Nutztieren, zur Herstellung von Produkten und der transparenten Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung.

Wer kann in einem Bürgerrat mitmachen?

Bürgerräte sind grundsätzlich Versammlungen von 30 bis 200 per Los zufällig ausgewählten Bürger*innen, die bei mehreren Terminen gemeinsam und in Kleingruppen ein vorgegebenes Thema diskutieren und der Politik ihre Handlungsempfehlungen als Bürgergutachten übergeben. Im Falle des Bürgerrates zum Thema Ernährung wurden 160 Bürger*innen ausgelost. In Frage kamen alle Menschen ab 16 Jahren mit Wohnsitz in Deutschland. Bei der Zusammensetzung wurde darauf geachtet, dass die Bürger*innen je nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund fair beteiligt wurden.

Was ist die Aufgabe von Bürgerräten?

Sie gelten als „Instrument der dialogischen Bürgerbeteiligung“ und sind als solche bereits vor rund 50 Jahren entstanden. Die Idee dahinter: Mit der Zufallsauswahl lassen sich auch Menschen erreichen, die nicht an Wahlen teilnehmen oder sich nicht regelmäßig einbringen, etwa weil sie nicht an Politik interessiert sind oder ihnen die Zeit für intensives Engagement fehlt. So sollen auch Stimmen hörbar werden, die ansonsten in politischen Debatten nicht präsent sind.

Bürgerräte dienen der Beratung der politischen Entscheidungsträger*innen und stellen Informationen bereit, die auf anderem Wege bisher nicht ausreichend gewonnen werden konnten. Sie sollen jedoch keine abschließenden Entscheidungen treffen. Auch sollen sie ergebnisoffen tagen können. Sie müssen zudem darauf vertrauen können, dass ihre Empfehlungen von der Politik ernsthaft und öffentlichkeitswirksam beraten werden. 

Eine Besonderheit bei parlamentarischen Bürgerräten ist: Das Thema muss von nationaler Bedeutung sein und zugleich einen konkreten Bezug zum Alltagsleben der Bürger*innen haben, damit diese ihre Erfahrungen einbringen können. Auch muss das Thema in der Zuständigkeit des Parlaments liegen.

Gibt es Geld für die Mitarbeit in Bürgerräten?

Beim vom Bundestag eingesetzten Bürgerrat zu Ernährungsfragen war das so. Pro Präsenzsitzung erhielten die Mitglieder eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 100 Euro, bei digitalen Zusammenkünften waren es 50 Euro.

Was ist der Unterschied zu einer Enquete-Kommission?

Im Gegensatz zur SPD befürwortet die FDP, eine Enquete-Kommission einzurichten, um die Corona-Pandemie politisch aufzuarbeiten. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist der Bundestag verpflichtet, eine Enquete-Kommission einzusetzen. Deren Mitglieder werden im Einvernehmen der Bundestagsfraktionen benannt. 

Im Gegensatz zu einem Bürgerrat besteht sie nicht aus zufällig ausgewählten Bürger*innen, sondern aus Bundestagsabgeordneten sowie Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis. Ähnlich wie die Mitglieder eines Bürgerrates legen auch die Mitglieder einer Enquete-Kommission nach Abschluss ihrer Arbeit dem Bundestag Berichte vor, in denen sie Ergebnisse und Empfehlungen festhalten. Ein Bürgerrat und eine Enquete-Kommission zu ein und demselben Thema könnten sich demnach auch ergänzen.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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2 Kommentare

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Mi., 26.06.2024 - 12:44

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Man fragt sich allerdings warum es überhaupt noch einer Justiz bedarf, wenn man doch alle Zwistigkeiten per Bürgerrat lösen könnte? Statt Verurteilungen sollte es gemeinsame Gespräche und Beratungen zwischen Opfer und Täter geben, um zusammen zu erarbeiten, was man das nächste Mal besser machen könnte.

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 27.06.2024 - 11:37

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Ratlosigkeit ! Das liest sich ja zuerst mal ganz gut und klingt nach Bürgerbeteiligung ist aber ansonsten ganz unverbindlch. und viel zu spät. Die Fakten, siehe RKI Protokolle, die zuerst mal frei geklagt werden mussten, wurden ja vor den Bürgern geheim hehalten. Ebenso die Die Bestellungen der Produkte der Medizin-/Pharmaindustrie. Aufklärung von Rechtsverstößen oder gar kriminellen Machenschaften ist in unserem Rechtsstaat die Aufgabe der UNABHÄNGIGEN Justiz und nicht von irgendwelchen rechtlich nicht genau definierten "Bürgerräten". Nebenbei haben wir auch noch parlametarische Untersuchungsausschüsse, die zur Klärung solcher Sachverhalte einen rechtlichen Rahmen haben.
Wer in diesem Zusammenhang Recht gebeugt hat oder zur Durchsetzung totalitärer Maßnahmen schlichtweg gelogen und sich gar bereicher hat ist ein Fall für die Justiz !!!
Bürgerräte, die etwas erhellen und bewikern können brauchen zuerst mal eine rechtliche verfassungsmäßige Grundlage, ansonsten bleibt es Augenwischerei.