Meinung

EU-Erweiterung: Warum der Westbalkan gemeinsam beitreten muss

Seit 20 Jahren wollen die Staaten des Westbalkans Mitglieder der Europäischen Union werden. Wichtig ist, alle sechs gemeinsam aufzunehmen. Nur dann wird die Erweiterung ein Gewinn für alle.
von Dorieta Gjura · 30. Mai 2023
Verbündete: Albaniens Premierminister Edi Rama (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz
Verbündete: Albaniens Premierminister Edi Rama (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz

Der Westbalkan bleibt eine tickende Zeitbombe. Die Situation in den vergangenen Tagen im Nord-Kosova zeigt eindrücklich, dass die Beziehungen zwischen Ländern in der Region ohne den Einfluss der EU nicht gelöst werden können. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist für die Westbalkanländer, wie der albanische Premierminister Edi Rama sagte, „the only game in town“, die einzige Möglichkeit also. Die Region, zu der Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosova, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien zählen, bemüht sich seit Jahrzenten, sich den Grundwerten der Europäischen Union anzunähern, doch dieser Prozess erweist sich als langwierig und häufig zäh. Ein zeitnahes Ende ist nicht in Aussicht und kommt wohl nicht bald in Frage. Die Frage ist eher: Worauf, auf wen und wie lange sollen die Menschen im Westbalkan noch warten?

Stabilisierung durch Erweiterung

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat zweifellos die EU-Erweiterungspolitik in den öffentlichen Vordergrund gerückt. Insbesondere der neue Kandidatenstatus der Ukraine warf kritische Fragen über den EU-Beitrittsprozess auf. Der Westbalkan scheint von dieser medialen Aufmerksamkeit jedoch kaum zu profitieren. In den sogenannten WB6-Staaten wird derzeit eher befürchtet, dass die Erweiterungspolitik in der Region gebremst wird und der Westbalkan noch stärker als zuvor in den Hintergrund der EU-Politik rückt.

Doch das eine muss das andere nicht ausschließen. Die EU wurde seit ihrer Gründung mehrfach erweitert und verfolgt seit jeher eine Strategie zur Stabilisierung des gesamteuropäischen Kontinents durch die Erweiterung. Genau genommen waren es bisher vier Erweiterungsrunden. Sie waren stets strategisch geplant und verfolgten konkrete Interessen – auch die der EU-Gründungsstaaten. Warum also ist es wichtig, dass trotz der unterschiedlichen Geschwindigkeiten innerhalb der WB6 bei der Integration, alle sechs Länder zu selben Zeit der EU beitreten?

  • Die Geschichte hat mehrfach gezeigt, dass „Vetos“, die Mitgliedsstaaten gegen andere Drittländer einlegen können, problematisch sein können. Die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosova, Serbien und Bosnien und Herzegowina und Serbien und Albanien kriseln. So wird Serbien das Kosova und seinen Beitritt zur EU wahrscheinlich immer ablehnen. Eine ähnliche Politik hat Griechenland jahrelang gegenüber Nordmazedonien verfolgt. Auch der Versuch, die EU-Verträge mit Blick auf diese Blockademöglichkeiten zu ändern, wird das Problem nicht lösen. Die SPD muss sich in der Bundesregierung deshalb für einen EU-Beitritt aller sechs Länder stark machen und nicht nur für einzelne. Der Beitritt von zwei oder drei Ländern wird nicht zwangsläufig Anreize für die anderen drei schaffen. Wir müssen die gesamte Region im Blick haben und uns als Ziel setzen, alle WB6 gleichzeitig der EU beitreten zu lassen.
  • Grenzen müssen unwichtiger werden durch Öffnung und durch europäische Integration. Vor kurzem war und immer wieder ist die Rede von einem möglichen Gebietstausch und Grenzverschiebungen zwischen Serbien und dem Kosova. Falls nur eines der Länder der EU beiträte, wäre deren Außengrenze nicht eindeutig definiert. Ein solcher Zustand droht zu einer Büchse der Pandora Europas zu werden und den gesamten Kontinent in unvorhersehbare Instabilität zu stürzen. Eine sozialdemokratische und vernunftgeleitete Westbalkanpolitik muss also die gesamte Region im Blick haben. Hierbei können die Länder sich weiterhin bemühen, als Voraussetzung für den Beitritt zur EU, gute Nachbarschaftsbeziehungen zu pflegen. Dies wird jedoch nur mit einer ernsthaften Vermittlungspolitik der EU gelingen: Die fragilen Demokratien und die noch offenen Wunden der Kriege sind ein Faktor, warum die gute Nachbarschaft ohne Unterstützung der EU kaum realistisch ist.
  • Die fünfte Erweiterungsrunde sollte auch ein strategischer Versuch der EU sein, ihren Einfluss in der Region zu stärken. Russland, China, aber auch die Türkei und der Iran gewinnen in einzelnen Ländern des Westbalkans zunehmend an Einfluss. Am Beispiel Serbiens und seinem Verhältnis zu Russland wird das noch eindeutiger. Serbiens Abhängigkeit ist dermaßen groß, dass dort das Narrativ des Kremls zum Krieg in der Ukraine stark verankdert ist. Der starke Einfluss dieser Länder auf dem Westbalkan bedeutet automatisch einen stärkeren Einfluss auf den gesamten Kontinent. Das ist nicht in unserem Interesse.

Der Westbalkan gehört genauso in die EU wie europäische Werte in den Westbalkan gehören. Eine umfassende Integration der gesamten Region und nicht einzelner Länder bringt all die oben erwähnten positiven Aspekte mit sich. Dank des „Berlin-Prozesses“ wurden bereits Fortschritte hinsichtlich dieses und anderer Aspekten erzielt. Die Wiederbelebung des Prozesses im November 2022 ist ein gutes Zeichen für die Region, das deutlich macht, dass Deutschland die Länder des Westbalkan nicht aus den Augen verloren hat. Auch die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz in den Westbalkan im Juni vergangenen Jahres sowie seine Rede Anfang Mai im Europäischen Parlament unterstreicht, dass die Region an Priorität gewonnen hat. Die Westbalkanländer haben sehr lange darauf gewartet, und es ist höchste Zeit, sie in unsere europäische Familie aufzunehmen. Denn zu dieser gehören sie.

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Autor*in
Dorieta Gjura
Dorieta Gjura

ist Europawissenschaftlerin und Historikerin mit dem Schwerpunkt Erweiterungpolitik der EU.

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