Kultur

Kinodrama „All Eure Gesichter“: Was Opfer und Täter*innen einander sagen

In einem Stuhlkreis geben Kriminelle und Verbrechensopfer ihr Innerstes preis: Das berührende Drama „All Eure Gesichter“ erzählt von neuen Wegen in der Justiz.

von Nils Michaelis · 15. Dezember 2023
All Eure Gesichter

Kreis-Verfahren hinter Gittern: Opfer und Täter*innen erzählen einander ihre Geschichten.

In seinem früheren Leben hat Nassim andere Menschen in ihren Wohnungen überfallen. Deren Angst interessierte ihn nicht. Er konnte ja seine eigene kaum beherrschen. Alles drehte sich darum, den „Job“ erfolgreich zu Ende zu bringen und dabei nicht erwischt zu werden. Kein Platz für Mitgefühl.

Irgendwann landete er dann aber doch hinter Gittern. Eines Tages sitzt Nassim dort Menschen gegenüber, die ebenso wie er Teil eines Experiments sind. Sie sind aus freien Stücken gekommen, um miteinander zu reden. Es sind Menschen, die schwere Verbrechen verübt haben oder einem solchen zum Opfer gefallen sind. Eine direkte Täter-Opfer-Beziehung besteht allerdings nicht.

Was ungewöhnlich anmutet, wird seit einigen Jahren in Frankreich und mittlerweile auch in Deutschland zunehmend praktiziert. Im Rahmen der „Restorativen Justiz" werden Opfer, Täter*innen und die Gemeinschaft in die Suche nach Lösungen einbezogen: Lösungen, um den Menschen innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern den Weg in ein besseres Leben zu ebnen. 

Ressentiments überwinden

Es geht um die Wiederherstellung von positiven sozialen Beziehungen, aber auch darum, dass Kriminelle Empathie für Verbrechensopfer entwickeln. Darum, dass Letztere Gehör finden und traumatisierende Erfahrungen besser verarbeiten können. Das französische Drama „All Eure Gesichter“ begleitet eine emotionale Reise, deren Teilnehmer*innen vor der der Herausforderung stehen, inneres Vertrauen zu entwickeln, Ressentiments zu überwinden und eine belastende Vergangenheit hinter sich zu lassen.

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Die Restorative Justiz sieht zwei Wege vor. Das Kreis-Verfahren bietet mittels einer von Fachkräften begleiteten Gesprächssituation einen geschützten Raum der Interaktion. Hinzu kommt die Täter*innen-Opfer-Mediation: Hierbei geht es unter anderem darum, die sozialen Beziehungen zwischen zwei Menschen für die Zukunft zu regeln. Beides bildet die Grundlage der beiden Erzählstränge, die sich dicht um die Betroffenen ranken. 

Im besagten Gesprächskreis treffen die unterschiedlichsten Charaktere und Temperamente aufeinander. Und damit auch konträre soziale und kulturelle Sphären. Nawelle wurde bei der Arbeit im Supermarkt mit einer Waffe bedroht. Seitdem plagen sie Phobien. Grégoire wurde zuhause zusammen mit seiner Tochter überfallen. Das warf sein Leben komplett aus der Bahn. Sabine wurde auf der Straße beraubt und körperlich misshandelt. Seit vielen Jahren traut sich die Witwe nicht mehr, ihre Wohnung zu verlassen. 

Täter*innen und Opfer in einer Person

Der drogenkranke Thomas verbrachte viele Jahre im Knast. Nun kämpft er darum, nicht wieder rückfällig zu werden. Issa stellt sich seiner Verantwortung für einen brutalen Akt der Gewalt, aber auch seiner eigenen Opfergeschichte. Und Nassim? Er setzt sich, vor allem durch die Erzählungen von Nawelle, mit den Folgen seiner Taten auseinander.

Auf einer anderen Ebene spielt sich die Geschichte von Chloé ab. Als Kind wurde sie vom Bruder missbraucht. Nun will die junge Frau mit dem Vergangenen aufräumen und mithilfe einer Mediation den Umgang mit ihrem Peiniger klären. Auch sie kämpft um ihren Weg in eine bessere Zukunft. Das finale Gespräch mit ihrem Bruder wird zum Klimax des gesamten Films.

„All Eure Gesichter“ bietet viele berührende Momente von Konfrontation und Entblößung. Menschen werden dazu gebracht, sich zu hinterfragen oder Ängste und Schwächen preiszugeben. Manchmal wachsen sie dabei über sich hinaus. Gerade Chloés Beispiel zeigt aber auch, wie fragil ein solcher Aufarbeitungsprozess ist. 

Menschen in ihrer Gesamtheit sehen

Der Film buhlt nicht um Betroffenheit. Er will uns dabei helfen, zu verstehen und Menschen in ihrer Gesamtheit zu sehen. Das ist verdienstvoll, weil die Leiden von Verbrechensopfern einer breiteren Öffentlichkeit kaum bewusst sind. Aber auch, weil auch die Bedürfnisse und Erfahrungen jener Menschen ihren Platz verdienen, die anderes Schlimmes angetan haben. Weil eben auch  sie Menschen sind.

Dieses Verstehen ist auf Kopf und Herz ausgerichtet. Insbesondere die Szenen in der Haftanstalt sind allerdings sehr nüchtern gehalten. Die statische Kamera fängt die Protagonist*innen meist in Halbtotalen ein, immer wieder auch in Großaufnahmen, extreme Perspektiven sind hingegen selten. Auch das überwiegend karge Szenenbild setzt kaum Akzente. Regisseur und Drehbuchautor Jeanne Herry will, dass wir uns ganz auf die Menschen und ihre Geschichten konzentrieren. Angesichts der weitgehend auf Gesprächen basierenden Erzählung ist häufig das Kopfkino gefragt. Einzig Chloé und Nassim wird Raum für Flashbacks geboten.

Angesichts einer Laufzeit von zwei Stunden ist dieses Format für das Publikum eine Herausforderung. Getragen wird es nicht zuletzt von einem hervorragenden Ensemble, das für eine subtile Emotionalität sorgt und viele französische Top-Stars in sich vereint. Und von einer Regie, die Grenzerfahrungen greifbar macht, ohne dabei zu überziehen.  So gesehen deckt sich die mitunter anstrengende, aber stimmige Form mit dem Anspruch, unser Bewusstsein für ein Thema zu schärfen, das viel mit dem Grad von Menschlichkeit in einer Gesellschaft zu tun hat.

Info:

„All Eure Gesichter“ („Je verrai toujours vos visages“, Frankreich 2023), Regie: Jeanne Herry, Drehbuch: Jeanne Herry und Chloé Rudolf, mit Leïla Bekhti, Gilles Lellouche, Adèle Exarchopolous, Dali Benssalah, Miou-Miou u.a., 118 Minuten, FSK ab 12.

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