Dokumentarfilm „Wir waren Kumpel“: Es gibt ein Leben nach der Kohle
Der Steinkohlebergbau in Deutschland ist Geschichte. Wie gehen die Menschen damit um? Der berührende Dokumentarfilm „Wir waren Kumpel“ erzählt von Verlust und Neuanfang.
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Auch Thomas muss sich nach dem Aus seiner Zeche neu sortieren. Weiterhin lebt er mit seiner Mutter zusammen. Wird es ihm gelingen, sich von ihr zu emanzipieren?
Vielen war die Kohle eine Heimat, nicht nur im beruflichen Sinne. „Mein Deutschland ist die Zeche“, sagt „Kiri“. In den 90er-Jahren floh er als Jugendlicher vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. In einem Bergwerk in Nordrhein-Westfalen fing er neu an. Er machte sich mit der Sprache und Kultur seines neuen Lebensmittelpunktes vertraut und baute sich eine Existenz auf. „Kiri“ schlug Wurzeln.
Dieses Deutschland gibt es nicht mehr. Die letzte Steinkohlenzeche wurde vor etwas mehr als fünf Jahren geschlossen: Im Dezember 2018 kam das Aus für die Zeche Prosper Haniel in Bottrop. Eine jahrhundertalte Industrietradition fand ihr Ende.
Diese Zäsur war seit vielen Jahren abzusehen, der Strukturwandel ist seit den 60er-Jahren im Gange. Doch was heißt das schon, wenn jemand direkt mit einem Bruch in ihrem oder seinem Leben konfrontiert ist?
Alles drehte sich um die Kohle
„Kiri“ ist einer der Protagonist*innen des Dokumentarfilms „Wir waren Kumpel“. Rund um den besagten Schlusspunkt begleiteten die Filmemacher Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek Menschen, die jahrzehntelang mit und von der Kohle gelebt haben. Für die die Zeche ein elementarer geistiger und sozialer Bezugspunkt war. Sie durchleben den Abschied von Traditionen und Rollenbildern. Und doch widerlegen sie diverse Klischees. Das zeigt sich besonders dann, wenn man ihr Leben „danach“ verfolgt.
Eigentlich müsste der Titel auch die gegenderte Form enthalten. Denn mit Martina lernen wir die ihren Angaben nach einzige Frau kennen, die in der Bundesrepublik jemals unter Tage gearbeitet hat. Allerdings begann ihre Laufbahn als Bergmann. Im fortgeschrittenen Erwachsenalter unterzog sie sich geschlechtsangleichenden Operationen, um auch körperlich endlich als Frau leben zu können. Ihr von Höhen und Tiefen geprägter Neuanfang, den der Film einfängt, umfasst viel mehr als den Wechsel von der Zeche zum Salzbergbau.
Wolfgang alias „Locke“ und Marco, genannt „Langer“, wirken wie maskuline Malocher aus dem Bilderbuch. Seit einer Ewigkeit arbeiten sie gemeinsam unter Tage. Man ist so vertraut, dass man sich unter der Dusche gegenseitig einseift. Doch als die Förderbänder stillstehen, zeigt der Männerbund Brüche. Während „Langer“ scheinbar mühelos den Übergang zum Schulbusfahrer meistert, muss „Locke“ seine neue Rolle erst noch finden.
Eine Lücke zu füllen
Letzteres gilt auch für Thomas. Eine Ewigkeit lang war er in seiner Zeche für die Bergmannskleidung der Besucher*innengruppen zuständig, dort fand er Gemeinschaft. Als es damit aus ist, hockt der „ewige Junggeselle“ wie ehedem mit seiner um keine Ansage verlegenen Mutter in der gemeinsamen Wohnung vor dem Fernseher. Um die Lücke, die die Kohle hinterlassen hat, zu füllen, beginnt er einen Kochkurs. Dieser scheint sein Leben über die Küche hinaus zu beflügeln.
Abschied und Neubeginn, dunkle und lichte Momente, Humor und Tragik: „Wir waren Kumpel“ lebt von starken Stimmungen und Kontrasten, die auch dank der subtilen Bildsprache und Montage zu einer atmosphärisch dichten Erzählung verschmelzen. Manch eine Szene, etwa Thomas und seine Mutter bei einer Mahlzeit vor der Schrankwand, besitzen die Kraft eines Gemäldes.
Obwohl der Film keine Interviewszenen enthält, gibt es dennoch Momente, wo die Auftretenden ihr Bild von sich selbst wie auch von ihrem Beruf hinterfragen. Diese Nähe zu den sehr unterschiedlich gelagerten Menschen ist ein klarer Pluspunkt.
Was die Mikroperspektive lehrt
Was den großen Rahmen des Themas betrifft, blendet das schweizerisch-deutsche Regie- und Drehbuchduo vieles aus. Die konkreten Schauplätze des Films sind allenfalls zu erahnen. Aspekte wie die ökologische Transformation der Energiewirtschaft werden nur in Gesprächsfetzen abgebildet. Von der politischen Debatte um das Aus für die Steinkohle und den Strukturwandel im Revier ganz zu schweigen.
Dessen ungeachtet lässt sich aus der Mikroperspektive dieses Films aber vor allem eines lernen: Menschen sind gerade angesichts globaler Veränderungen weitaus offener und bereiter für einen Neuanfang, als es insbesondere Parteien im rechten und ganz rechten Lager glauben machen wollen.
Info:
„Wir waren Kumpel“ (Deutschland / Schweiz 2023), ein Film von Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek, Kamera: Sebastian Klatt, mit Wolfgang „Locke“ Herrmann, Marco Edelmann alias „Langer“, Thomas Hagedorn, Kirishantaan Nadarajah, Martina Klimetzki u.a.,104 Minuten
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