Kultur

Film „Das Land der verlorenen Kinder“: Frauen trotzen dem Elend Venezuelas

Ein Slum als Nahaufnahme eines gescheiterten Staates: Der Dokumentarfilm „Das Land der verlorenen Kinder“ erzählt von Elend und Gewalt in Venezuela. Und von mutigen Frauen, die für ein besseres Leben kämpfen.

von Nils Michaelis · 5. Juli 2024
Das Land der verlorenen Kinder

Ein bisschen Aufbruch: In ihrem Elendsquartier hält Carolina eine Nachbarschaftshilfe am Laufen.

Was zieht man einem Neugeborenen zu dessen Begräbnis an? Carolina Leal entscheidet sich für ein Mützchen und Kleidchen in roter Farbe. Wenig später bringt sie den winzigen Sarg zu den Eltern des Kindes in einer venezolanischen Armensiedlung. Es musste sterben, weil seine Familie keinen Kittel für den Arzt kaufen konnte, der die Geburt hätte begleiten sollen.

Wenn Kinder die Zukunft eines Landes sind, dann liefert dieser Film den endgültigen Beweis dafür, wie übel es um Venezuela steht. Rund sieben Millionen Menschen haben das in Elend und Chaos versunkene Land in den letzten Jahren verlassen. Rund eine Million Kinder ließen die Geflüchteten zurück. 

Die meisten von ihnen leben in Slums wie Santa Rosa am Rande der Millionenstadt Maracaibo. Das, wie es heißt, schlimmste und gefährlichste Elendsquartier Venezuelas ist der Schauplatz von „Das Land der verlorenen Kinder“.

Ein Staat in Auflösung

Auf kleinstem Raum erzählen der kolumbianisch-deutsche Filmemacher Juan Camillo Cruz und sein deutscher Kollege Marc Wiese von einer Gesellschaft und einem Staat in Auflösung. Und auch vom Ende aller Utopien über einen angeblich linksrevolutionären politischen Kurs in dem südamerikanischen Land. 

Die Menschen in Santa Rosa, das viele in Richtung USA verlassen haben oder davon träumen, sind sich selbst überlassen. Der Staat tritt nur bei Polizeirazzien in Erscheinung. Eine reguläre Arbeit hat hier niemand.

All das trifft die Kinder am härtesten. Viele landen auf der Straße und schließen sich kriminellen Banden an. Aber auch die oftmals durch Flucht und Gewalt fragmentierten Familien bieten meist wenig Sicherheit. Hungern gehört hier zum Alltag. Wer Glück hat, kommt in einem von der Kirche getragenen Internat unter.

Einsatz für Zusammenhalt

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei alleinerziehende Mütter, ihre alltäglichen Kämpfe und ihre seelischen Ausnahmezustände. Diese sind verschiedener Natur und wurzeln doch gemeinsam in dem bedrückenden Dasein, das immer wieder die Vorstellungskraft sprengt. 

Carolina Leal arbeitet jeden Tag daran, das Leben in Santa Rosa ein bisschen erträglicher zu machen. Vor geraumer Zeit hat sie eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut. Die Aktivistin und ihre Helferinnen kümmern sich nicht nur um Neugeborene und ihre Familien, sondern um alles, was dem Zusammenhalt und dem geistigen wie körperlichen Wohlbefinden der Menschen dient. 

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Lange Zeit hat sie darüber ihre Tochter vernachlässigt und damit traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, die es nun aufzuarbeiten gilt. Vor der Kamera zeigt die entschlossene Frau, wie sie sich auch dieser Herausforderung stellt.

Wenn es in Carolina Leals Leben eine gewisse Aufwärtsbewegung gibt, geht es bei Kiara Valbuena eher in die entgegengesetzte Richtung. Mit fünf Kindern schlägt sich die völlig ausgezehrte, deutlich älter als 33 Jahre wirkende Frau irgendwie durch. Ein weiteres Kind ist unterwegs. Der älteste Sohn ist 14 und steht am Beginn einer kriminellen Karriere: Ohne Waffe geht er nicht erst auf die Straße. Kiara sucht nach einem Ausweg aus dieser lebensgefährlichen Sackgasse. Doch am Ende bleibt es wohl dabei, die Mädchen zum Betteln in die Stadt zu schicken. Oder wird die nun sechsfache Mutter einen weiteren Versuch wagen, mitsamt ihrem Nachwuchs dem Moloch zu entkommen?

Bilder des Elends mit Zwischentönen

„Das Land der verlorenen Kinder“ blickt in das finstere Herz eines gescheiterten Staates. In ihrer Epik und Dramatik stehen die Schicksale, derer wir Zeuge werden, für verweigerte Lebenschancen und für eine Perspektivlosigkeit, die sich in nahezu jeder Szene widerspiegelt, selbst wenn Cruz und Wiese um Zwischentöne bemüht sind. Gänzlich „ungefiltert“ sind die Eindrücke der nächtlichen Gewalt. Sie wurden heimlich mit dem Handy gefilmt oder Überwachungskameras entnommen.

Diese Finsternis macht traurig, wütend und sprachlos. Doch es gibt darin auch Licht. Das beweist Carolina Leal in mehrfacher Hinsicht. Früher führte auch sie eine Bande an und besitzt bis heute großen Einfluss. Ironie der Geschichte: Ohne diese dunkle Vergangenheit der Protagonistin wären die Dreharbeiten in Santa Rosa undenkbar gewesen, heißt es vom Verleih.

„Das Land der verlorenen Kinder“ (Deutschland/Venezuela 2023), ein Film von Juan Camillo Cruz und Mark Wiese, mit Carolina Leal, Kiara Valbuena u.a., OmU, 95 Minuten, FSK ab zwölf Jahre.

www.realfictionfilme.de

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