Türkei: Warum Oppositionsführer Özgür Özel um Glaubwürdigkeit kämpft
Seit November führt Özgür Özel die größte türkische Oppositionspartei CHP. Der gelernte Apotheker ist in der CHP ein bekanntes Gesicht - noch fehlt es ihm aber an klaren Visionen. Vor den Kommunalwahlen im Frühjahr muss er viele enttäuschte Wähler zurückgewinnen.
imago/dts Nachrichtenagentur
Vor Kurzem zu Gast auf dem SPD-Bundesparteitag: der CHP-Vorsitzende Özgür Özel.
Beim SPD-Parteitag in Berlin Mitte Dezember wurde Özgür Özel herzlich empfangen. Als er seine Rede dann auch noch auf Deutsch hielt, hatte er die Genoss*innen vollends auf seiner Seite.
Özel, seit Anfang November Chef der republikanischen Volkspartei CHP, betonte beim Parteitag der Schwesterpartei die sozialdemokratischen Gemeinsamkeiten: „Das 21. Jahrhundert steht noch am Anfang. Es ist Pflicht von uns Sozialdemokraten, dieses Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit zu machen."
Dies gelinge um so besser, je enger die beiden Länder und Parteien zusammenarbeiten würden, so der Parteichef.
Säkularismus und Demokratie
Ein Politiker wie Özel ist in Deutschland gerne gesehen: Er gilt als gebildet, höflich, redegewandt und gut informiert, er bekennt sich zu Säkularismus und Demokratie.
In der Türkei hingegen, wo Erdogan seit über zwei Jahrzehnten mit einer populistischen, konfrontativen Politik regiert, die auf starke Männlichkeit setzt, hat es Özel schwer.
Özgür Özel wurde 1974 im westanatomischen Manisa als Sohn eines Lehrerehepaares geboren. Deutsch lernte er auf dem Gymnasium. Auf Wunsch seines Vaters studierte er Pharmazie an der renommierten Ege Universität in Izmir, dort lernte er mit 19 Jahren seine spätere Ehefrau Didem kennen.
Preise für soziale und ökologische Projekte
Nach dem Studium eröffneten sie in Manisa zusammen eine Apotheke, bekamen eine gemeinsame Tochter. Er amtiert zweimal als Vorsitzender des türkischen Apothekerverbandes, erhielt in seiner Funktion zahlreiche Preise für seine sozialen und ökologischen Projekte.
Auch international war er schon früh unterwegs, ist Mitglied der International Pharmaceutical Federation und der der European Union Pharmacy Group und hat Vorträge und Beiträge auf 163 internationalen Kongressen und Konferenzen geleistet.
Ab 2009 begann er, sich politisch zu engagieren, seit 2011 sitzt er für die CHP im Parlament. Lange Zeit war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender, seit Frühjahr ist er Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Er gilt seit Jahren als pointierter Redner und scharfer Kritiker des Erdogan-Regimes, setzt sich offen ein für die Freilassung des einstigen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas oder des Kulturmäzens Osman Kavala.
Wandel versprochen
Nach der knappen Wahlniederlage von CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu wurden in Partei und Wählerschaft Rufe nach einem neuen Parteichef immer lauter, insbesondere vom Istanbul Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Beim Parteitag im November gewann Özel gegen Kilicdaroglu knapp im zweiten Wahlgang. Vor jubelnden Delegierten versprach Özel einen tiefgreifenden parteiinternen Wandel.
Doch viele Wähler*innen zweifeln, ob der wirklich eintritt. So galt Özel jahrelang als Unterstützer Kilicdaroglus, ihre Programme sind zum Verwechseln ähnlich. Ein neues, visionäres Programm, etwa mit einem Fahrplan aus der Inflationskrise, hat Özel bisher noch nicht präsentiert.
Bei seinem Amtsantritt versprach Özel, dass es parteiinterne Vorwahlen für die CHP-Kandidaten der landesweiten Kommunalwahlen im März 2024 geben solle. Sechs Tage später nahm er das Versprechen mit der Begründung zurück, es gebe "zu wenig Zeit“.
Hoffnungen enttäuscht
Monatelang betonte er außerdem, er wolle zukünftig mehr Frauen und junge Menschen aufstellen - doch die bisher kursierenden Namen beweisen das Gegenteil, weibliche Namen muss man da mit der Lupe suchen. Nach einem ernsthaften parteiinternen Wandel sieht das noch nicht aus.
Seine erste Reise nach Amtsantritt machte Özel ins Erdbebengebiet Hatay, versprach die riesigen Probleme dort wieder auf die nationale Tagesordnung zu bringen. Neben ihm posierte der CHP-Oberbürgermeister von Hatay, Lütfü Savaş.
Der geriet nach den Beben lokal stark in die Kritik. Viele Bewohner*innen der Stadt werfen ihm katastrophales Krisenmanagement sowie Korruption und Misswirtschaft im Vorfeld der Beben vor, die zu viel Pfusch am Bau und Tausenden von Todesopfern geführt hatten. Mit Kritik am Oberbürgermeister hielt sich Özel bei seinem Besuch jedoch zurück - Rechenschaft abzulegen ist in der CHP ebenso wie in Erdogans AKP wenig verbreitet.
Große Herausforderungen
Nun erwarten Özel Mammutaufgaben. Bis zu den Kommunalwahlen muss er viele enttäuschte Wähler zurückzugewinnen. Nach der letzten Wahlniederlage betonten viele CHP-Wähler, der Partei nie wieder ihre Stimme geben zu wollen.
Zudem muss Özel neue Allianzen schmieden. 2019 hatte ein Bündnis mit der nationalistischen iyi-Partei sowie Unterstützung durch die Kurden in Istanbul und Ankara zum Sieg verholfen. Doch das Verhältnis zur iyi-Partei ist seit dem Frühjahr zerrüttet.
Ein Großteil der Kurden hat die Hoffnung verloren, von der CHP jemals mehr als leere Versprechen zu bekommen. Özel muss nun beweisen, dass er es besser kann.
Vorbild Willy Brandt
Beim SPD-Parteitag zitierte Özel Willy Brandt mit den Worten „Mehr Demokratie wagen“. Das wäre ein guter Anfang.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.