Die britische Politik ist für ihre scharfe Rhetorik berühmt und berüchtigt und nie verlegen um einen guten Wahlspruch. „Get Britain’s Future back“ hallte es in dieser Woche durch die Parteitagshalle der Labour Party in Liverpool, die von Plakaten und Flyern nur so glänzte. „No Future?“ Also holen wir uns die Zukunft Großbritanniens zurück.
Labour-Konzept: Vorsicht statt Leidenschaft
Was an guten alten Punk der 70er Jahre erinnerte, wirkte wie der verzweifelte Versuch, die gegenwärtige Krise des Landes auf den Punkt zu bringen, ohne sich programmatisch allzu sehr festzulegen. Das hat einen guten Grund, denn viel zu oft hat der konservative Gegner heiße Eisen aus der Ideenschmiede von Labour übernommen und anschließend als eigenes Werkzeug verkauft. So zuletzt im März 2023, als die Regierung über Nacht das Konzept der kostenlosen Kinderbetreuung aus dem Labour-Programm übernahm. Seither hält sich die Partei bedeckt. Nur keine Fehler machen. Alle Umfragen sprechen dafür, dass man die nächsten Parlamentswahlen für sich entscheiden könnte, indem man sich lediglich als die vernünftige Alternative zum Chaos der Tories darstellte.
Hierbei kommt die „Ming-Vasen-Theorie“ ins Spiel: In den Zeiten von New Labour 1997 beschrieb der Sozialdemokrat Roy Jenkins den damaligen Wahlkampf wie den Versuch, die unbezahlbare chinesische Keramik über einen hochglanzpolierten Boden zu tragen. Seither ist die Metapher in den Strategieüberlegungen der Partei so tief verwurzelt, dass Vorsicht an die Stelle leidenschaftlicher Kampagnenarbeit getreten ist. In einer Art „seismischem Moment“ steht man aktuell nicht nur in England, sondern auch in Schottland davor, der jeweils regierenden Partei die Macht zu entreißen.
58 Prozent der Wahlberechtigten gaben jüngst bei Nachwahlen in Glasgow ihre Stimme an Labour. Landesweite Projektionen zeigen, dass zwölf Mitglieder des regierenden konservativen Kabinetts in Westminister ihren Wahlkreis verlieren würden, sollte Labour bis zu den Wahlen keinen größeren Scherbenhaufen produzieren. Entsprechend selbstbewusst präsentierte sich die Partei nun bei ihrem Jahrestreffen. Man sei bereit, Verantwortung für das Land zu übernehmen und ging die aktuelle Regierungspartei aggressiv an, die sich erst vor zwei Wochen in Manchester einen blamablen Auftritt erlaubt hatte.
Konservative ohne Plan
Mit Staunen verfolgte die Öffentlichkeit wie auf dem Parteitag der Konservativen nicht nur der Brexit-Erfinder Nigel Farage, sondern auch die geschasste Liz Truss wie Rockstars gefeiert wurden. Torie-Chef Rishi Sunak brüskierte gestandene Vorgänger im Premierministeramt wie David Cameron oder Theresa May, indem er sich als „Change Candidate“ präsentierte, als Kandidat des Wandels, der Großbritannien aus dem Schlamassel führen werde, gerade so, als wäre es nicht seine eigene Partei gewesen, die in den letzten 13 Jahren die Schlüssel zur Downing Street innegehabt hätte.
Maßnahmen gegen die aktuelle Misere? Fehlanzeige. Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch erläuterte keine Industriestrategie, bot keine Rezepte gegen den Fachkräftemangel und erwähnte das immer noch fehlende Freihandelsabkommen mit den USA lieber erst gar nicht. Anstelle eines gesteuerten Fachkräftezuzugs empfahl Finanzminister Hunt weitere Sanktionen im Sozialsystem, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Den Brexit pries man als Lösung und nicht als Ursache der vielen offensichtlichen Probleme wie signifikant höhere Kosten für Verwaltung, Logistik, Zölle oder kostenintensive IT-Anpassungen bei gleichzeitig gesunkenem Umsatz vieler Unternehmen.
Geradezu geschockt reagierte die britische Wirtschaft folglich auf die Ankündigung Sunaks, die Klimaziele Großbritanniens abschwächen zu wollen. In Manchester fand sich kein Plan, keine Vision, hinter der sich die britische Gesellschaft hätte versammeln könnte. Die Angst, eine Art Teaparty könnte die Tories übernehmen, bestimmte hingegen die Talkshows.
Die Umfragewerte der Tories sind schlecht. Wird Sunak also Neuwahlen im Mai 2024 in Verbindung mit den dann stattfindenden Regionalwahlen ausrufen? Oder wäre es eher ratsam, dies erst im darauffolgenden November zu tun, wenn die Inflationsraten statistischen Berechnungen zufolge endlich gesunken sein sollen? Oder wird die als erbarmungslos bekannte Innenministerin Bravermann darauf setzten, ihren „Traum“, endlich Asylsuchende nach Ruanda ausfliegen zu können, als Erfolgsgeschichte zu verkaufen, der sich in einen Wahlerfolg ummünzen ließe? Verbotsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) würde man im Zweifel nicht beachten. Das sei schließlich eine Brexit-Dividende. Dass der EGMR kein Justizorgan der EU, sondern des Europarats ist, wird der Wählerschaft nicht näher erläutert. Man wolle die „Kontrolle über die eigenen Grenzen“ zurückerhalten und werde mit diesem Schlachtruf auch die nächsten Wahlen gewinnen.
Labour mit geschlossenen Reihen
Und Labour? Die Partei hat die Reihen geschlossen. Unter einem riesigen Union Jack trat ein staatstragender Keir Starmer auf die Bühne und versprach ein „Jahrzehnt der Erneuerung“ für das ganze Land. Von der Programmatik seines Vorgängers Jeremy Corbyn ist nichts übriggeblieben. Mit taktischer Finesse war es ihm im Vorfeld gelungen, den linken Flügel der Partei weiter zu schwächen. Mit der stellvertretenden Labour-Chefin Angela Rayner, die von der weiterhin kritischen Gewerkschaftsbewegung unterstützt wird, ist eine konstruktive Arbeitsteilung gelungen. Wechselwählerinnen und Wechselwähler werden mit einem neuen Sozialvertrag angesprochen – mit einem Ende des Hire and fire oder der Nullstundenverträge, die Arbeitnehmende zu Tagelöhnern degradiert.
Aber auch Unternehmen, Banken und Wirtschaftsverbände sind auf dem Konferenzparkett zurück. Peter Mandelsohn, ein Hauptarchitekt von New Labour war ein vielgefragter Redner und mahnte Starmer, die Gewerkschaften zur Zurückhaltung aufzufordern. Die Rhetorik von Starmer und seiner Schatten-Finanzministerin Rachel Reeves wirkte durchgängig unternehmensfreundlich. Man werde keine Steuern – „weder auf Vermögen noch auf andere Dinge“ – erhöhen. Eiserne Haushaltsdisziplin sei das Gebot der Stunde. Das Intermezzo von Liz Truss habe eine Staatsverschuldung von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinterlassen.
Weitere Themen des Wahlkampfs blieben nur grob umrissen. Fünf Missionen werden bislang beworben: Großbritannien als „Supermacht für saubere Energie“, ein starker nationaler Gesundheitsdienst, der Bau von 1,5 Millionen neuen Wohnungen in sicheren Straßen, gleiche Chancen für alle und das „größte Wirtschaftswachstum in den G7“. Ohne Superlativen geht es in Großbritannien nicht. Auffällig ruhig blieb es hingegen beim Thema Migration.
Engere Handelsbeziehungen mit der EU angestrebt
Und wie hält es Labour mit der EU? Kontroversen über das „B-Wort“ blieben aus. Keir Starmer hat sich verpflichtet, anlässlich der 2025 anstehenden Überprüfung des Austrittsabkommens engere Handelsbeziehungen anzustreben. Nur so sei Wachstum überhaupt möglich. Die Partei scheint ihre Orientierungslosigkeit mit Blick auf den Kontinent überwunden zu haben. Seit dem Votum von 2016 hat sich die öffentliche Meinung gedreht. Etwas mehr als ein Viertel der Befürworter bereuen ihre Entscheidung und so ist bereits jetzt eine atmosphärische Verbesserung zu Brüssel erkennbar. Ohne eine Gegenleistung Londons wird dort jedoch niemand gewillt sein, die Verhandlungspakete wieder aufzuschnüren. Was könnte ein Premier Starmer also anbieten?
Er wolle in Verhandlungen mit der EU gehen, um eine Vereinbarung zu erzielen, nach der London eine EU-Asylbewerber-Quote von Migranten akzeptieren könnte, wenn diese im Gegenzug die über den Ärmelkanal ankommenden Flüchtlinge zurücknähme. Dies sei die einzige Möglichkeit, so Starmer, das Drama um die „small boats“ im Kanal zu stoppen. Das eigentlich entscheidende Wahlkampfthema zeichnet sich also allmählich ab. 100.000 EU-Migranten werde Starmer jedes Jahr ins Land lassen und alle Türen öffnen, so prophezeite die rechtskonservative The Sun. Der rechtspopulistische Sender GB News verbreitet zudem Fake-News über EU-Wiedereintrittspläne der LabourParty. „Gebt Euch keinen Illusionen hin“, warnte Starmer in Liverpool eindringlich: Die Konservativen „wissen genau, wo die roten Linien sind und sie werden sie weiter verschieben und weiter überschreiten“. Im Sinne der Ming-Vasen-Theorie ist Vorsicht also weiterhin die Mutter der Porzellankiste, um im Wahlkampf nicht aufs Glatteis geführt zu werden.
Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.