Großbritannien

56,2 Prozent im Mitgliederentscheid: Keir Starmer ist neuer Labour-Chef

Kai Doering04. April 2020
Strahlender Sieger im ersten Wahlgang: Mit 56,2 Prozent wurde Keir Starmer per Mitgliederentscheid zum neuen Labour-Vorsitzenden gewählt.
Strahlender Sieger im ersten Wahlgang: Mit 56,2 Prozent wurde Keir Starmer per Mitgliederentscheid zum neuen Labour-Vorsitzenden gewählt.
Keir Starmer ist neuer Vorsitzender der britischen Labour-Partei. In einem Mitgliederentscheid setzte sich der 57-Jährige deutlich gegen seine beiden Konkurrentinnen durch. Die Aufgaben, vor denen er und seine Partei sehen, sind gewaltig.

Der Favorit hat sich durchgesetzt. Beim Mitgliederentscheid über den Vorsitz der britischen Labour-Partei erhielt Keir Starmer 275.780 der 490.731 abgegebenen Stimmen. (Die detaillierten Ergebnisse gibt es hier.) Das entspricht einem Anteil von 56,2 Prozent. Seine beiden Konkurrentinnen Rebecca Long-Bailey (27,6 Prozent) und Lisa Nandy (16,2 Prozent) ließ der 57-Jährige damit deutlich hinter sich. Neben den gut 550.000 Labour-Mitgliedern konnten sich auch Mitglieder „befreundeter Organisationen“ wie etwa der Gewerkschaften und weitere Wähler, die sich zuvor registrieren mussten, an der Abstimmung beteiligen.

Starmer: „Wieder in der Regierung dienen, sobald die Zeit gekommen ist“

„Es ist die Ehre meines Lebens, die Labour-Partei führen zu dürfen“, sagte Keir Starmer in einem Video, das er kurz nach seiner Wahl auf Twitter verbreitete. „Ich werde diese großartige Partei in ein neues Zeitalter führen“, versprach er: „sodass wir unserem Land wieder in der Regierung dienen könne, sobald die Zeit dafür gekommen ist“

Online-Wettportale hatten seine Siegeschancen bei bis zu 95 Prozent gesehen. Das deutliche Ergebnis gibt diesen Prognosen recht. Bereits für die Zulassung zum Mitgliederentscheid hatte Starmer mit Abstand die meisten Nominierungen der Labour-Abgeordneten im Unterhaus sowie im Europaparlament erhalten. Zudem wurde er von Großbritanniens größter Einzelgewerkschaft „Unison“ unterstützt.

Bricht Starmer dürfte mit Corbyns Kurs brechen

Keir Starmer ist Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers. Seinen Vornamen trägt er in Erinnerung an einen der ersten Labour-Abgeordneten im britischen Unterhaus, Keir Hardie. Starmer gilt als moderat. Die Rückverstaatlichungspolitik der öffentlichen Daseinsvorsoge des bisherigen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn hat er stets mitgetragen. Ob er dessen Linkskurs fortsetzen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

So oder so sind Starmes Aufgaben als Partei- und Oppositionsführer im Parlament gewaltig. Bei der Parlamentswahl im Dezember erhielt Labour das schlechteste Ergebnis seit 84 Jahren. Schon zuvor war die Partei zerstritten. Über all dem schwebt die praktische Umsetzung des Brexits und ganz aktuell der Umgang mit der Coronakrise. „Wir haben einen Berg zu besteigen“, sagte Starmer daher in seinem Twitter-Video. „Und wir werden ihn erklimmen.“

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Kommentare

Gut so

Es gibt also doch gute Nachrichten dieser Tage. Starmer übernimmt von Corbyn: Eine Richtungsentscheidung, die ich als Liberaler mit SPD-Parteibuch und überzeugter Giddensianer nur begrüßen kann. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Beispiel auch in anderen Ländern Schule machen könnte.

Gut so? Wir werden sehen.

Ob das eine gute Nachricht ist, wird sich in Zukunft erweisen. Die Messlatte liegt bei knapp 600.000 Mitgliedern und 40% Stimmenanteil.

Was unsere SPD betrifft, lieber Dirk, ist die Bilanz der überzeugten Giddensianer keine gute Nachricht.

Jedenfalls nicht für Sozialdemokraten, für unsere politischen Gegner schon.

Schauen wir mal

Lieber Heinz, das ist, wie mit der Frage, was besser ist: "Evangelisch" oder "katholisch", Erzählung (= Giddens ist an allem Schuld) und Gegen-Erzählung (=Giddens, intellektueller Ziehvater des Golden Age der Sozialdemokratie mit Wahlergebnissen von jeweils deutlich über 40 Prozent). Oder: "Uli Hoeneß hätte nicht schießen sollen" (damals, in Belgrad, I mean). Heinz, dann freuen wir uns doch auf die kommenden Erfolge von Kühnert & Co.. Den Umfrageergebnissen nach, konnte man die Abonnenten der Frankfurter Rundschau und des "der Freitag" ja schon mal für sich gewinnen. Wie gesagt: Schauen wir mal.

Keine Frage des Glaubens

Lieber Dirk! Du hast ein Glaubensbekenntnis zu Giddens abgegeben. Ich habe auf den realen Zustand der Sozialdemokratie "nach Giddens" hingewiesen. Woran mich weniger die Wahlergebnisse stören; eher die veränderte Sozialstruktur unserer Anhänger und paralysierte, tief gespaltene sozialdemokratische Parteien. Kevin Kühnert jedenfalls hat diesen Zustand nicht zu verantworten. Er sucht, für mich glaubhaft und auf dem Boden unserer Programmatik, nach Auswegen.
Giddens jedenfalls hätte ihm nicht vorgeworfen, zurück in die DDR zu wollen. Er hat sich fundiert auch mit Marx auseinandergesetzt.
Was uns in der heutigen Lage der Welt und der Sozialdemokratie Giddens noch zu sagen hat, müsstest Du mir sagen. Haben die handelnden Individuen 2020 die Macht, die Welt zu verändern? Wenn ja, wohin führt das? Oder müssen wir uns doch wieder der Veränderung der Gesellschaft(en) widmen? Dem Kollektiv?
Eine andere Frage ist es, zwischen einem "golden age" und einem Strohfeuer zu unterscheiden, zwischen Wesen und Erscheinung.

Strohfeuer versus nasses Tuch (NewSoz)

Lieber Heinz, woher nimmst Du den DDR-Vorwurf? Von mir nicht, oder (jedenfalls hier, in diesem Kontext, nicht geäußert)? Nun, Giddens Hauptwerk zur Structuration Theory ist aus 1984, aber, wie ich denke, nach wie vor ziemlich gültig. Die populäre Schrift zum "dritten Weg" ist aus 1998 und hat - wie das Schröder-Blair-Paper oder Vorländers weitgehend vorzügliche Schrift zum Kommunitarismus (2001) - große Momente aber eben auch Schwächen. Damit meine ich insbesondere die - falsche - Überführung der Daseinsvorsorge in eine reine Wettbewerbsstruktur (wobei dies allenfalls mittelbar aus Giddens ableitbar ist, wenn ich mich recht erinnere) und das weitgehende Nicht-Eingehen auf Wert und Wirkung der von mir sehr geschätzten Rechts- und Gesellschaftsform der (im schweizerische Diktion) "liberalen Genossenschaft" (not to be confused mit Kühnerts Produktivgenossenschaft). Also: Giddens als Autor und Wissenschaftler von mir hochgeschätzt; ein Prophet, der immer nur Wahres und ewig Gültiges von sich gegeben haben, war bzw. ist Giddens nicht. Das macht ihn mir auch durchaus menschlich sympathisch - und unterscheidet ihn von Alles-Wissern wie z.B. dem ehrenwerten Prof. Butterwegge.

Hoch die neue Mitte?

Lieber Dirk! Meine "DDR" -Formulierung war nicht auf Deinen Text bezogen, sondern eine Kritik am teils mehr als dürftigen Niveau des Kühnert-Bashings auch in der SPD. Und eine Anerkennung Giddens.
Dessen "dritter Weg" ist nun in die Jahre gekommen. Die Sozialdemokratie hat sich der Mitte und ihrer "Pluralisierung der Lebensformen" zugewendet, der wohlhabenden Mehrheit, deren Einstellung "nicht mehr mit dem sozialdemokratischen Ethos von Kollektivität und Solidarität übereinstimmte". Sie hat "ihre überkommen Ansichten grundsätzlicher in Frage gestellt" als bisher. Dann, schrieb Giddens werde die Sozialdemokratie auf theoretischer wie auf praktisch-politischer Ebene prosperieren.

Das Gegenteil ist eingetreten. Peter Glotz hatte das vorhergesehen: "die Organisation des Wohlstands einer Mehrheit auf Kosten der Minderheit könne eine aufgeklärte Linke niemals akzeptieren" (1992). Diese Minderheit mit den nicht pluralisierten Lebensstilen durfte zwar im Handel, Logistik, Gesundheit, Pflege usw. rackern, aber für weniger Geld und ihrer kollektiven Interessenvertreter beraubt. Heute tragen sie weiße Kittel und gelbe Westen, aber kein SPD-Buch.
Was jetzt, Dirk?

Danke

Lieber Heinz, danke für Deine maßvolle und differenzierte Replik. Du sorgst Dich, um die spezifische SPD-Klientel. Das ist verständlich und ehrenwert. Und trotzdem: Auch wenn es 22 Jahre her ist. 1998: Die SPD gewinnt die Bundestagswahl deutlich mit über 40%. Zuvor: Landslide Victory von Tony Blair im UK. Siege, die auf die Ansprache der klassischen "Sozi"-Zielgruppe zurück gingen? Nein, im ganzen Gegenteil. Aber das ist Geschichte. Ich habe eine Vermutung, wie die SPD sofort zurück an die Spitze kommen würde (ich sage hier nicht, dass ich das unterstütze) und nenne nur zwei Namen (die ich vermutlich falsch schreibe, ich schlage die jetzt nicht nach): Ahmed Aboutaleb und Mette Frederikson.

Marx

Ergänzung: Bei aller Wertschätzung, lieber Heinz. Marx? Nein. Sozialismus? Nein. (Ich weiß um den Begriff des DemSoz in unserem Parteiprogramm, doch glaube mir, ich bin trotz des DemSoz und nicht wegen des DemSoz Mitglied dieser Partei). Soziale Marktwirtschaft? JA. Oder in anderer Währung ausgedrückt: Agartz oder Nell-Breuning? Nell-Breuning - und das 100 Mal (christlich motivierte Sozialpolitik statt Sozialismus).

Marx die Zweite

"Richtig wirksam wird ein Philosoph erst, wenn die Leute, die mit seinen Gedanken operieren, gar nicht mehr wissen, dass sie von ihm stammen. Diesen Zustand hat Karl Marx inzwischen erreicht. Wir brauchen uns um ihn keine Sorgen zu machen" (Peter Glotz, 1992, Die Linke nach dem Sieg des Westens, 81).

Interpunktionsfehler in Zeile 1

Sorry for that.

Bin einfach nur froh zu lesen

Bin einfach nur froh zu lesen, dass es noch Menschen in der SPD gibt, die Giddens gelesen haben.

Oh

Die Freude ist ganz auf meiner Seite.

gut so, kommt zu spät

Starmer hätte eine akzeptable Alternative zum Brexit bieten können, als Corbyns fast dogmatisches Linksprofil. So war einer Mehrheit der Brexit das kleinere Übel als die linken Konzepte des frühen letzten Jahrhunderts. Dumm nur, wenn man faktisch nur die Wahl zwischen 2 Übeln hat.

Globales Regieren?

Giddens ist kein Neoliberaler. Die Weltwirtschaft hält er nur mittels kosmopolitischer Demokratie für wirksam regulierbar, damit der Ungleichheit und dem drohenden ökologischen Desaster entgegengetreten werden kann. "Es bringt nichts, dem Marktfundamentalismus auf lokaler Eben entgegen zu treten und ihm auf globaler Ebene die Herrschaft zu überlassen".
Giddens ist nicht dafür verantwortlich, dass die reichen Industrieländer zwar globale Wertschöpfungsketten und Freihandel wollen, solange es ihnen nützt. Globale Demokratie aber nicht, sondern Standortnationalismus. Das Ergebnis dieses Quarks kommentierte Ulrich Beck, durchaus Giddens Bruder im Geiste so: Realsozialismus für die Reichen, Neoliberalismus für die Armen.
So stehen die Erde kurz vor dem ökologischen, der nach Giddens alternativlose Kapitalismus vor dem ökonomischen und die Sozialdemokratie vor dem politischen Kollaps. Es ist nicht gelungen, den Individualismus aus seiner Asozialität zu befreien. Europa schließt die Grenzen, um die Ungleichheit zu retten. Die neue Mitte driftet in Richtung Faschismus. Ratlos der demokratische Westen.
Lesen wir doch Achille Mbembe, Zhao Tingyang und Franziskus´ Laudato Si.

Laudato Si

Laudato Si ist eine exzellente Quelle. Danke.

Danke

Unsere Diskussion war für mich anregend und fruchtbar. Danke, lieber Dirk. Gerne wieder.
Das gemeinsame in unseren Positionen scheint sich bei Franziskus zu finden. Wir sind Suchende.
Ich sags mal mit Zhao Tinyang: "Wirkliche Politik ist die Kunst, die Bedingungen für universelle Kooperation und Koexistenz zu schaffen."