Europawahl am 9. Juni: Was und wen wählen wir da eigentlich?
Wählen wir bei der Europawahl am 9. Juni Kandidat*innen oder Parteien? Gibt es eine Fünf-Prozent-Hürde? Welche Kompetenzen hat das EU-Parlament? Und welche Folgen hätte ein Rechtsruck? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zur Wahl.
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Das Interesse wächst: Am 9. Juni ist der letzte Tag der Europawahl 2024.
Worüber entscheiden die deutschen Wähler*innen bei der Europawahl am 9. Juni?
In Deutschland gibt es knapp 65 Millionen Stimmberechtigte. Sie entscheiden über die deutschen Sitze im Europaparlament. Das können sie alle fünf Jahre. Eine Wahlpflicht gibt es nicht. Die besteht aber in Belgien, Bulgarien, Griechenland und Luxemburg.
Warum ist gerade die Wahl in Deutschland so wichtig?
Weil Deutschland als einwohnerstärkstes Land der EU mit 96 Abgeordneten die meisten Mandate im 720 Sitze umfassenden EU-Parlament hat, gefolgt von Frankreich mit 81 und Italien mit 76 Abgeordneten. Deshalb beeinflusst der Ausgang der Wahlen in der Bundesrepublik die Sitzverteilung im EU-Parlament numerisch am stärksten.
Wie genau findet die Stimmabgabe statt?
Wie bei den Wahlen in Deutschland gibt es hauptsächlich zwei Möglichkeiten zur Wahl: Entweder man wählt direkt im Wahllokal am Wohnort. Darüber wird man per Wahlbenachrichtigung informiert. Oder man wählt per Briefwahl. Die muss man beantragen, der Antrag kommt zusammen mit der Wahlbenachrichtigung per Post. Eine Online-Wahl ist in Deutschland nicht möglich. Die meisten EU-Staaten wählen am Sonntag, 9. Juni. Kurz vorher zwischen dem 6. und dem 8. Juni wählen bereits die Bürger*innen der Niederlande, Irlands, Tschechiens, Lettlands und Maltas.
Gibt es eine Fünf-Prozent-Hürde?
Nein, bei der Europawahl in Deutschland gibt es – anders etwa als bei den Wahlen zum Bundestag oder den Landtagen– seit 2014 keine Fünf-Prozent-Hürde. Es gibt überhaupt keine Sperrklausel. Das bedeutet in der Praxis: Bei keiner Wahl in Deutschland haben kleinere Parteien bessere Chancen als bei der Europawahl. So reichten bei der Europawahl 2019 bereits 0,7 Prozent der Stimmen für einen deutschen Parlamentssitz im EU-Parlament aus. Diese guten Chancen für kleine Parteien gibt es aber nicht in allen EU-Staaten: Denn in 16 von 27 Mitgliedstaaten besteht eine Sperrklausel zur Europawahl.
Haben die Wählenden eine Erst- und Zweitstimme?
Nein. Eine Erst- und eine Zweitstimme gibt es bei den Wahlen zum Bundestag und zu den meisten Landesparlamenten: Dort werden mit der Erststimme Wahlkreiskandidat*innen direkt gewählt, mit der Zweistimme Parteien. Bei der Wahl zum Europaparlament haben die deutschen Wähler*innen aber nur eine einzige Stimme, sie machen also nur ein Kreuz. Mit ihrer Stimme wählen sie eine nationale Partei bzw. politische Vereinigung mit einer bundesweiten Liste. 35 davon treten in der Bundesrepublik an. Die Bürger*innen wählen keine Wahlkreiskandidat*innen, da Deutschland bei der EU-Wahl nicht in Wahlkreise eingeteilt ist. Die ganze Bundesrepublik bildet einen einzigen Wahlkreis.
Was ist bei der EU-Wahl 2024 in Deutschland neu?
Die Wahl am 9. Juni ist eine Premiere: Erstmals dürfen in Deutschland auch 16- und 17-jährige das EU-Parlament wählen. Das betrifft in der Bundesrepublik 4,8 Millionen junge Menschen. Dazu hat der Bundestag das Wahlalter gesenkt: von 18 auf 16 Jahre. Über das Mindestalter bei der Wahl zum Europaparlament entscheidet nämlich nicht die EU, sondern das nationale Wahlrecht der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Worüber genau entscheidet das Europaparlament?
Das EU-Parlament hat bedeutenden Einfluss auf die politische Ausrichtung der Europäischen Union. Es wählt nicht nur die EU-Kommission – wenn man so möchte die Regierung der Union – es überwacht und kontrolliert auch ihre Arbeit. Darüber hinaus entscheidet es über den EU-Haushalt und die Gesetzgebung. Es beeinflusst damit nationale Gesetze der Mitgliedsstaaten und entscheidet in vielen Fragen mit über den Alltag der EU-Bürger*innen. Das Parlament ist das einzige Gremium der EU, das direkt von den Bürger*innen gewählt wird.
Was geschieht nach der Europawahl?
Die Abgeordneten des neugewählten Europäische Parlaments treffen sich am 16. Juli 2024 zur konstituierenden Sitzung. Sie wählen dann einen neuen Parlamentspräsidenten oder eine neue Präsidentin. Die EU-Abgeordneten bilden schließlich neue Fraktionen. Durch diese Fraktionsbildung wird das neue Kräfteverhältnis im Parlament endgültig sichtbar.
Welcher Wahlausgang wird erwartet?
Es wird mit einem Rechtsruck gerechnet. Seit der ersten Europawahl im Jahr 1979 besteht erstmalig die realistische Aussicht, dass Rechtsextreme stärkste Kraft im EU-Parlament werden. Das zeigen zahlreiche Studien, zuletzt die des „European Council on Foreign Relations“ (ECFR). Danach werden den beiden rechten Fraktionen „Identität und Demokratie“ und „Europäische Konservative und Reformisten“, zu denen die italienischen Neofaschist*innen von Georgia Meloni gehören, zusammen 183 Sitze prognostiziert, ein Zuwachs um fast 60 Sitze. Die Rechten hätten damit gemeinsam mehr Abgeordnete im neuen EU-Parlament als die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) und die Progressive Allianz der Sozialdemokrat*innen (S&D), denen 173 bzw. 131 Mandate prognostiziert werden.
Welche Folgen hätte ein Rechtsruck im EU-Parlament?
Er hätte weitreichende Konsequenzen für die EU. Denn zum ersten Mal in der Geschichte würden Christdemokrat*innen, Konservative und Rechtsextreme über eine absolute Mehrheit im EU-Parlament verfügen. Bisher hab es eine Mehrheit von Sozialdemokrat*innen, Liberalen, Grünen und Linken. Da es im Europaparlament traditionell keine festen Koalitionen gibt, wie etwa im Bundestag, sondern wechselnde Mehrheiten, wären die Folgen schnell sichtbar.
Was würde sich konkret politisch ändern?
In Brüssel erwartet man bei einem solchen Wahlausgang eine weniger soziale und liberale, vor allem eine weniger ökologische Linie im EU-Parlament. Menschen- und Minderheitenrechte würden wohl weniger Unterstützung erhalten. Auch die weitere Unterstützung der Ukraine könnte in Frage stehen. Die Wahrscheinlichkeit eines neuen Rechtskurses wird erhöht, weil die EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyern (CDU) und der EVP-Vorsitzende Manfred Weber (CSU) eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen wiederholt ausdrücklich nicht ausgeschlossen haben. SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley warnt genau davor.