110 Millionen Geflüchtete: Warum die meisten nicht nach Europa kommen
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Derzeit wird innerhalb der Europäischen Union sehr konkret über eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) diskutiert. Die Innenminister*innen der Mitgliedsstaaten haben sich bereits auf eine Position dazu verständigt. Nun stehen in den kommenden Monaten Verhandlungen mit dem Europaparlament an, um die Reform zum Abschluss zu bringen. Ein Blick auf die nun veröffentlichten Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks zeigen jedoch: Zwar sind mit knapp 110 Millionen so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht. Doch nur ein kleiner Teil von ihnen kommt überhaupt nach Europa.
Wie schlüsselt sich diese Zahl auf?
Weiterhin machen Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres jeweiligen Landes aufgrund von Krieg oder Verfolgung von einer Region in eine andere fliehen müssen, mit einem Anteil von 58 Prozent den größten Teil der Geflüchteten aus. Derzeit gibt es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes 62,5 Binnenvertriebene durch Konflikte und Gewalt. Die fünf Länder mit den meisten Binnenvertriebenen sind Kolumbien (6,8 Millionen), Syrien (6,8 Millionen), Ukraine (5,9 Millionen), Demokratische Republik Kongo (5,5 Millionen) und Jemen (4,5 Millionen).
Neben Konflikten und Gewalt werden Menschen auch durch Katastrophen innerhalb ihres Landes vertrieben. Die größte Zahl von Menschen, die aufgrund von Katastrophen innerhalb ihres Landes vertrieben wurden, wurde aus Pakistan gemeldet (8,2 Millionen), nachdem das Land von schweren Überschwemmungen heimgesucht wurde. Auf den Philippinen und in China führten Zyklone, Überschwemmungen und tropische Stürme zur Vertreibung von 5,4 Millionen bzw. 3,6 Millionen Menschen.
Hinzu kommen 35,3 Millionen Geflüchtete, 5,4 Millionen Asylsuchende und 5,2 Millionen andere schutzbedürftige Personen.
Wie ist der enorme Anstieg der Zahlen zu erklären?
Die Gesamtzahl der Flüchtlinge und schutzbedürftigen Menschen ist weltweit um rekordverdächtige 35 Prozent oder 8,9 Millionen Menschen gestiegen. Das lag nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks vor allem am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hinzu kommen revidierte Schätzungen für Afghan*innen in der Islamischen Republik Iran und Pakistan. Durch den Konflikt im Sudan sei darüber hinaus mit einem weiteren Anstieg dieser Zahl zu rechnen.
Aus welchen Ländern fliehen die meisten Menschen?
Herkunftsland Nummer eins von Geflüchteten bleibt weiterhin Syrien mit 6,5 Millionen Menschen. Doch schon direkt dahinter folgt die Ukraine, aus der bis Ende 2022 5,7 Millionen Menschen aufgrund des Krieges geflohen sind. Es folgen Afghanistan (5,7 Millionen), Venezuela (5,5 Millionen) und der Südsudan (2,3 Millionen).
Welche Länder nehmen die meisten Menschen auf?
70 Prozent aller Geflüchteten lebten im vergangenen Jahr in ihren Nachbarländern. Mit Blick auf diejenigen Länder, die in absoluten Zahlen am meisten Menschen aufgenommen haben, liegt die Türkei mit 3,6 Millionen Menschen vorne. Es folgen die Islamische Republik Iran mit 3,4 Millionen, Kolumbien 2,5 Millionen, Deutschland (2,1 Millionen) und Pakistan (1,7 Millionen). Damit wird deutlich, dass Deutschland von allen EU-Staaten am meisten geflüchtete Menschen aufgenommen hat.
Interessant ist jedoch auch der Blick auf den relativen Anteil von Geflüchteten an der Gesamtbevölkerung. So ist beispielsweise in dem kleinen karibischen Inselstaat Aruba jede sechste Person geflüchtet, im Libanon jede siebte. Auch in Jordanien (eine von 16 Personen) und Montenegro (eine von 19 Personen) machen Geflüchtete einen signifikanten Anteil an der Gesamtbevölkerung aus.
Wie viele Geflüchtete sind zurückgekehrt?
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind im vergangenen Jahr mehr als sechs Millionen geflüchtete Menschen in ihre Herkunftsländer oder Regionen zurückgekehrt. Diese Zahl umfasst circa 5,7 Millionen Binnenvertriebene, die innerhalb ihres Landes in ihre Herkunftsregion zurückgekehrt sind, sowie 339.300 Geflüchtete.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo