Stephan Weil zur Migrationspolitik: „Es geht um Humanität und Ordnung“
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Mitte Oktober haben Sie die niedersächsische Landesaufnahmebehörde für Geflüchtete in Braunschweig besucht. Wie ist die Situation in Niedersachen im Moment?
Leider nicht gut, so wie wahrscheinlich überall im Land. Die Landesaufnahmeeinrichtung in Braunschweig zum Beispiel ist für 600 Menschen ausgelegt, im Moment leben dort aber 2.000 Menschen. Deshalb wurden große Zelte errichtet. Es ist alles gut und professionell organisiert, aber das kann kein Dauerzustand sein. Es geht dann weiter mit der Vermittlung der Geflüchteten in die Kommunen, aber auch dort ist es für Verantwortlichen nicht leicht, geeignete Plätze zu finden. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass wir im letzten Jahr bereits eine Million Menschen aus der Ukraine untergebracht haben. Die Zahl der zu erwartenden Asylanträge wird zudem in diesem Jahr bei etwa 330.000 liegen und damit wesentlich höher als erwartet. Es wird also immer komplizierter, die Menschen adäquat unterzubringen. Und natürlich wird auch die Integration schwieriger, wenn die Zahlen so hoch sind.
Vielfach wird bereits auf die Situation im Jahr 2015 verwiesen, in dem etwa 890.000 Schutzsuchende, in erster Linie aus Syrien, in Deutschland registriert wurden. Ist der Vergleich berechtigt?
Die Abläufe sind wesentlich geordneter als damals. Das ist ein großer Vorteil und hilft sehr, die die aktuelle Situation zu bewältigen. Deshalb bekommen wir es auch noch hin. Die Betonung liegt aber auf noch. Hinzu kommt, dass die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft im Vergleich zu 2015 spürbar gesunken ist.
Nach Ihrem Besuch in Braunschweig haben Sie sogar von ganz erheblichen Widerständen in der Bevölkerung gegen die Unterbringung von Geflüchteten gesprochen. Wie machen sie sich bemerkbar?
Um die Kommunen zu entlasten, sucht das Land Niedersachsen auch selbst nach Liegenschaften, in denen Geflüchtete untergebracht werden können. Dabei kommt es schnell zu Protest und Widerstand, sobald bestimmte Gebäude in den Blick genommen werden. Diese Widerstände haben manchmal konkret begründete Ursachen, manchmal geht es aber auch eher um allgemeine Bedenken. Unter diesen Umständen ist es immer wieder eine Hauptaufgabe für die Verantwortlichen im Land und in den Kommunen, für Akzeptanz zu werben.
Gemeinsam mit den anderen Ministerpräsident*innen fordern Sie deshalb schon länger die Eindämmung der irregulären Migration. In der vergangenen Woche hat das Bundeskabinett entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht. Reichen die aus?
Was Bundesinnenministerin Nancy Faeser vorgelegt hat, halte ich für sehr sinnvoll. Das entspricht auch in hohem Maße den Vorschlägen, die aus den Ländern und den Kommunen gekommen sind. Wenn es aber um die Eindämmung der irregulären Migration geht, muss eigentlich früher angesetzt werden, also bevor die Menschen in der Europäischen Union oder sogar in Deutschland sind. Deshalb gibt es unter den Bundesländern eine breite Zustimmung zum europäischen Asylkompromiss. Über diesen Kompromiss diskutieren gerade der europäische Rat und das Europaparlament und ich hoffe sehr, dass er rasch zustande kommt. Es gibt zwar noch einige kritische Fragen, die zu klären sind, aber zum ersten Mal besteht die Chance für eine gemeinsame europäische Asylpolitik.
Kritiker*innen werfen der Politik vor, eine zu restriktive Linie zu verfolgen.
Nein, es geht um Humanität und Ordnung. Schutzberechtigte müssen Schutz bekommen, dabei bleibt es. Das ist übrigens die Mehrheit derjenigen, die kommen. Restriktiv ist diese Politik gegenüber Menschen, die keine Bleibeperspektive haben. Aber wenn wir den Menschen mit Bleibeperspektive helfen wollen, müssen wir dazu auch in der Lage sein und bleiben. Insofern sind die jetzt beschlossenen Maßnahmen leider notwendig.
Ein Ziel der Maßnahmen, die die Bundesregierung nun ergreift, ist die Beschleunigung von Asylverfahren. Was muss dafür gewährleistet sein, damit es tatsächlich schneller geht?
Da gibt es zwei unterschiedliche Ebenen. Das eine ist die Entscheidung über den Asylantrag. Das ist Sache des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Dort braucht es sicher mehr Personal, wenn die Verfahren beschleunigt werden sollen. Die Länder müssen ihrerseits besser werden bei der Dauer der Gerichtsverfahren, insbesondere bei denjenigen Menschen, die erfahrungsgemäß keine Bleibeperspektive haben.
All das wird auch Thema sein, wenn sich die Ministerpräsident*innen am 6. November wieder mit Bundeskanzler Olaf Scholz treffen. Im Zentrum dürfte dann auch die Finanzierung stehen. Was ist dran am Vorwurf des Bundes, die Länder würden das bereitgestellte Geld nicht ausreichend an die Kommunen weitergeben?
Aus meiner Perspektive nichts. Der größte Teil des Geldes fließt direkt an die Kommunen. Gleichzeitig entlasten wir in Niedersachen unsere Kommunen dadurch, dass wir auch zahlreiche neue Landesunterkünfte aufbauen. Das geschieht ausdrücklich in Abstimmung und mit Zustimmung der Kommunen. Wenn wir dafür auch einen kleineren Teil der Bundesmittel verwenden, ist das für die Kommunen wesentlich besser, als wenn wir ihnen hundert Prozent der Gelder geben, sie dann aber auch hundert Prozent der Unterbringung gewährleisten müssen.
Wird es denn am 6. November den lange erhofften Durchbruch in der Frage des Umgangs mit Geflüchteten geben?
Ich habe natürlich keine Glaskugel und weiß nicht, was bis zum 6. November noch alles passieren wird. Ein Fortschritt ist sicher, dass sich Bund und Länder im Vorfeld auf ein sogenanntes atmendes System geeinigt haben. Der Bund muss danach seine Mittelzuweisungen an der Anzahl der zu versorgenden Geflüchteten orientieren. Darum gab es lange Streit, jetzt zum Glück nicht mehr. Einen Dissens gibt es weiterhin bei der Höhe der Mittel, die die Kommunen erhalten sollen. Gerade wenn die Zugangszahlen hoch sind, werden Unterbringung und Versorgung immer teurer und für die Kommunen kaum mehr zu finanzieren. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, dass die kommunale Handlungsfähigkeit schwindet, weil der Bund zu wenig tut. Ich hoffe sehr, dass wir am 6. November zu einer Lösung kommen, die den Kommunen eine deutliche finanzielle Entlastung bringt.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.