Inland

Rasha Nasr: „Wir sind doch schon längst ein Einwanderungsland.“

Die migrationspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Rasha Nasr, plädiert beim Thema Migration für mehr Sachlichkeit und eine breitere Debatte. So könne es gelingen, attraktiver für Fachkräfte aus dem Ausland zu werden.
von Jonas Jordan · 26. Oktober 2023
Rasha Nasr ist SPD-Bundestagsabgeordnete und migrations- und integrationspolitische Sprecherin ihrer Fraktion.
Rasha Nasr ist SPD-Bundestagsabgeordnete und migrations- und integrationspolitische Sprecherin ihrer Fraktion.

Sie gerieten kürzlich in die Schlagzeilen, als Sie im Bundestag die Frage eines AfD-Abgeordneten konterten. Haben Sie die zahlreichen positiven Reaktionen darauf überrascht?

Rasha Nasr: Ja, absolut. Das war mein erster Candystorm. Mit dieser Welle der Liebe habe ich nicht gerechnet, aber offenbar habe ich einen Punkt getroffen. In einem Moment, in dem ich so massiv angegriffen wurde und mich auch verletzlich gefühlt habe, so viel Solidarität zu bekommen, das war schon krass.

Sie sind seit kurzem migrations- und integrationspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Anlässlich Ihrer Wahl schrieben Sie bei Instagram: „Als SPD müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen, die zu uns kommen und bereit sind, ihre Kraft, Leidenschaft und Liebe für dieses so schöne Land zu geben, eine echte Chance bekommen, sich hier zu integrieren und eine langfristige Perspektive bei uns zu haben.“ Wie kann das gelingen?

Indem wir aufhören, nur noch über ein Thema zu sprechen, nämlich Abschiebungen. Stattdessen sollten wir mehr über die Abschaffung von Arbeitsverboten oder Wohnsitzauflagen reden, mit denen wir dafür sorgen können, die gesellschaftliche Akzeptanz bei den Themen Einwanderung, Migration und Asyl zu steigern. Wir müssen Wohnungen bauen. Wir müssen Leute im öffentlichen Dienst einstellen. Wir müssen eine soziale Infrastruktur hinbekommen. Diese Sachen hat die Merkel-CDU 16 Jahre lang verschlafen. Jetzt sind die Kommunen überfordert. Das müssen wir anerkennen, aber wir brauchen auch ein bisschen mehr Sachlichkeit in der Debatte. Denn für Abschiebungen gibt es enorme Hürden. Letztlich sind 55.000 Menschen ausreisepflichtig. Dann so zu tun, als seien Abschiebungen das Allheilmittel und würden die Lösung aller Probleme bringen, halte ich für zu kurz gesprungen und etwas gefährlich.

Warum ist die Debatte trotzdem aktuell so darauf fokussiert?

Mit den Menschen aus der Ukraine sind innerhalb kürzester Zeit 1,5 Millionen Menschen neu nach Deutschland gekommen. Dadurch haben wir eine angespannte Situation in den Kitas, in den Schulen und auf dem Wohnungsmarkt. Das stellt uns auch deswegen vor größere Herausforderungen, weil wir nach 2015 wieder Infrastruktur abgebaut haben, die wir jetzt dringend brauchen. Gleichzeitig verschiebt die Union den politischen Diskurs jeden Tag weiter nach rechts. Das hilft nicht in Zeiten, in denen eine Krise nach der anderen kommt und Leute Angst haben und verunsichert sind.

Die Union fordert nun sogar wieder eine Obergrenze. Wie lässt sich die Debatte wieder entemotionalisieren?

Indem wir die Fakten in den Vordergrund stellen. Wir brauchen einen sachlichen Diskurs. Wir müssen die positiven Geschichten erzählen. 27 Prozent der Menschen in diesem Land haben einen Migrationshintergrund. Wir sind schon längst ein Einwanderungsland.   

Die SPD-Fraktion setzt aktuell auf eine Doppelstrategie: zum einen die sogenannte irreguläre Migration zu bekämpfen, zum anderen Anreize für Fachkräfteeinwanderung zu setzen. Wie kann dieser Spagat gelingen?

Wir legen den Fokus zu sehr auf Abschottung. Gleichzeitig sehen wir, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU nicht reicht. Wir sehen, dass Menschen aus sogenannten Drittstaaten einen immer größeren Bogen um Deutschland machen, gerade Fachkräfte. Das Dresdner Unternehmen Infineon hat jüngst beklagt, wie schwer es ist, Fachkräfte nach Dresden zu holen, weil der Ruf ist, wie er ist. Wir müssen aufhören, die Menschen zu kriminalisieren, die zu uns kommen, um Schutz zu bekommen. Denn eine Flucht ist niemals freiwillig. Deswegen muss man an die Leute ran, die 20 Leute in den Kofferraum eines Vans packen, über die Grenzen schaffen und dann sich selbst überlassen. Wir müssen legale Fluchtrouten schaffen.

Wie kann Deutschland gerade für Fachkräfte attraktiver werden?

Wir müssen von unserer deutschen Arroganz wegkommen, dass die ganze Welt nur darauf wartet, zu uns zu kommen. Wir sind mittlerweile an dem Punkt, an dem wir Realitäten anerkennen müssen, nämlich dass wir gar nicht mal so attraktiv sind und auch nicht mithalten können. Wir machen aber auch keine Angebote, die gut genug sind. Wir müssen Bürokratie abbauen, die Verfahren klüger gestalten, mehr Angebote schaffen. Dann kann es vielleicht klappen, aber auch das wird eine Weile dauern. Wir müssen dringend unsere Auslandsvertretungen personell aufstocken. Es kann nicht wahr sein, dass Menschen neun Monate auf einen Termin in der Botschaft warten, um den Antrag auf ein Visum stellen zu können. Zudem ist es je nach Land unterschiedlich, welche Unterlagen dafür bei der deutschen Botschaft eingereicht werden müssen. Die Verfahren, die wir uns mit unserer Liebe zur Bürokratie überlegt haben, sind viel zu voll mit verschiedensten Hürden. Die Sprachanforderungen, die wir stellen, sind viel zu hoch. Die Menschen brauchen quasi ein abgeschlossenes Germanistik-Studium, wenn sie zu uns kommen wollen. Vieles davon haben wir nun mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz überwunden beziehungsweise zumindest den gesetzlichen Rahmen dafür geschaffen. Jetzt müssen die Bundesländer nachziehen.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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