Geschichte

Vor 70 Jahren: Die SPD gegen Adenauer – Einheit statt Spaltung

Mit dem „Deutschen Manifest“ vom 29. Januar 1955 will die SPD die Wiederbewaffnung und die Zementierung der Teilung Deutschlands stoppen. Unter Erich Ollenhauer fordert sie eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, eingebettet in ein demokratisches Europa

von Thomas Horsmann · 29. Januar 2025
Carlo Schmid, Erich Ollenhauer und Gustav Heinemann

In der Paulskirche: Carlo Schmid (l.), Erich Ollenhauer (2. v. r.) und Gustav Heinemann (r.)

An einem kalten Wintertag in Frankfurt am Main eilen Menschen in dicken Mänteln an Ruinen und nüchternen Neubauten vorbei. Ihr Ziel: die historische Paulskirche, die nach den Kriegszerstörungen wiederaufgebaut ist. Mehr als Tausend Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kultur drängen zusammen mit zahlreichen Kamerateams und Reportern zur Wiege der deutschen Demokratie. Dort veranstalten SPD, DGB sowie Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche eine Protestversammlung. Es ist Samstag, der 29. Januar 1955. 

Der Protest steht unter dem Motto „Rettet Einheit, Frieden und Freiheit! Gegen Kommunismus und Nationalismus!“. Er richtet sich gegen die Politik Bundeskanzler Konrad Adenauers. Dieser will mit den Pariser Verträgen das Besatzungsregime in Westdeutschland beenden, indem er die Wiederbewaffnung und den NATO-Beitritt zusichert. 

Deutschland als Schlachtfeld

Viele Deutsche lehnen diesen Kurs ab. Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wollen sie keine neue deutsche Armee. Sie fürchten, die CDU-Politik zementiere die deutsche Teilung, Deutschland drohe erneut zum Schlachtfeld zu werden. Die SPD unter Erich Ollenhauer fordert eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, eingebettet in ein demokratisches Europa. „In den ehrwürdigen Mauern der Paulskirche weht heute ein Geist, der an die Geburtsstunde der deutschen Demokratie erinnert“, schreibt die FAZ am nächsten Tag. 

In der Paulskirche beschließen die Teilnehmer per Handzeichen das „Deutsche Manifest“. Es warnt: „Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muss die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken. Eine solche Maßnahme würde die Gewissensnot großer Teile unseres Volkes unerträglich steigern.“ Die Unterzeichner fürchten, „dass durch die Pariser Verträge die Tür zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit zugeschlagen wird“. Zu den Erstunterzeichnern gehören Erich Ollenhauer, Carlo Schmid, Helmut Gollwitzer und Gustav Heinemann. „Wer militärische Blockbindung betreibt, kann dabei die Wiedervereinigung wohl vielfältig im Munde führen, aber er verhindert sie zugleich“, warnt das Manifest.

Die SPD führt den Protest an

Für die SPD ist klar: Ein kollektives europäisches Sicherheitssystem ist zielführender als östliche und westliche Militärbündnisse auf deutschem Boden. Sie plädiert für eine aktive Neutralitätspolitik, die sowohl den Westen als auch den Osten einbezieht.

Das „Deutsche Manifest“ löst eine Protestwelle gegen den Adenauer-Kurs aus, getragen von SPD und Gewerkschaften. Die SPD organisiert allein im Januar und Februar 1955 mehr als 6.000 Mahnwachen und Demonstrationen – mit großem Erfolg. Hunderttausende unterzeichnen das Manifest. Dennoch nimmt der Bundestag die Pariser Verträge am 27. Februar 1955 nach 40-stündiger Debatte mit 314 von 473 Abgeordneten an. Am 9. Mai 1955 tritt die Bundesrepublik der NATO bei, am 14. Mai gründet die Sowjetunion den Warschauer Pakt.

Ein langer Weg zur Einheit

Die SPD behält ihren Kurs gegen die Pariser Verträge noch eine Weile bei. Doch 1957 erreicht die Union mit Adenauer die absolute Mehrheit, während die SPD nur 31,8 Prozent erzielt. Dieses Debakel ebnet 1959 den Weg zum Godesberger Programm mit der Anerkennung der Bundeswehr und der NATO-Mitgliedschaft. So gelangt die SPD 1966 an die Regierung und setzt eine neue Ostpolitik um, die 1990 schließlich zur Wiedervereinigung führt. 

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Thomas Horsmann

ist freier Journalist und Redakteur.

 

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