Geschichte

Notstandsgesetze 1968: Als Willy Brandt sein „Mehr Demokratie wagen“ erfand

Die Stimmung war aufgeheizt im Mai 1968. Kurz bevor der Bundestag die Notstandsgesetze beschließen wollte, demonstrierten Zehntausende im Bonner Hofgarten. Es war Vizekanzler Willy Brandt, der mit einer viel beachteten Rede Vertrauen zurückgewann.

von Norbert Bicher · 9. August 2024
60.000 Menschen kamen im Mai 1968 nach Bonn, um gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition zu demonstrieren.

60.000 Menschen kamen im Mai 1968 nach Bonn, um gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition zu demonstrieren.

Das Regierungsviertel glich einer Festung. Hunderte von Bereitschaftspolizisten sicherten den Bundestag mit Absperrgittern und Wasserwerfern – die Angst vor Ausschreitungen war an diesem 30 Mai 1968 groß. Denn seit Monaten hatten in vielen Universitätsstädten wütende Student*innen gegen die geplanten Notstandsgesetze protestiert.

Großdemo auf der Bonner Hofgartenwiese

Gemeinsam mit mehreren Einzelgewerkschaften hatte die außerparlamentarische Opposition am 11. Mai 1968 zu einem Sternmarsch nach Bonn aufgerufen. 60.000 Teilnehmer*innen demonstrierten bei der Abschlusskundgebung auf der Bonner Hofgartenwiese gegen das Gesetzesvorhaben der Großen Koalition. Als Hauptredner wetterte Heinrich Böll, die Planungen der Regierung stünden „für eine fast totale Mobilmachung“.

Der Kölner Schriftsteller hatte aber wenig Hoffnung, dass die dritte Lesung und die Abstimmung an jenem 30. Mai von den Protesten beeindruckt würden. „Die Gesetze sind durch“, schrieb er resigniert an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und warnte: „Die wirklich beunruhigende Hast, mit der nun nach der dritten Lesung geschrien wird, wird auch harmlosere politische Gemüter nachdenklich stimmen.“

Erhebliche Risiken für die SPD

Böll hatte mit seiner Einschätzung recht. Die Abgeordneten der Großen Koalition stimmten mehrheitlich jenem Gesetzespaket zu, das im Falle eines inneren oder äußeren Notstands mit beträchtlichen Einschränkungen im privaten, aber auch im öffentlichen Bereich verbunden war. Ein Jahrzehnt war über das Vorhaben gestritten worden. Gegen den Ansatz der Union, im Notstand müsse alle Macht von der Exekutive ausgehen, stemmte sich die SPD vehement. Im Parlament war es ab 1966 vor allem das Verdienst der Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU/CSU) und Helmut Schmidt, dass sie das Primat des Parlaments in solchen Krisensituationen durchsetzten.

Doch das Ja zu den Gesetzen barg für die SPD erhebliche innerparteiliche Risiken. Große Teile der Basis, ohnehin über das Regierungsbündnis mit der Union erzürnt, hatten ähnliche Bedenken wie die Schriftsteller Böll und Günter Grass oder die protestierenden Student*innen und Gewerkschafter*innen.

Willy Brandt wirbt für „die Stunde des Parlaments und der mündigen Bürger“

Für Willy Brandt, den Vizekanzler und Außenminister dieses ungeliebten Bündnisses, keine leichte Aufgabe, in der Debatte, die Gesetze zu vertreten und gleichzeitig Bedenken der innerparteilichen Gegner aufzugreifen und zu minimieren. Für ihn unabdingbar: Der Notfall dürfe nicht die „Stunde der Exekutive“ sein, sondern „er muss die Stunde des Parlaments und der mündigen Bürger sein“.

Ironisch wandte er sich gegen die These, das Parlament werde sich mit den Gesetzen selbst abschaffen: „Manche Stimmen… wollen den Eindruck erwecken, hier habe sich eine Gesellschaft von lauter Bösewichten mit finsteren Absichten zusammengefunden: eine Regierung, die darauf aus ist, ihre Macht zu verewigen, die Grundrechte der Staatsbürger abzuschaffen, einen neuen Krieg vorzubereiten, und ein Parlament, das nichts lieber täte, als sich selbst zu entmannen. Diese absurde Vorstellung nährt eine ganze propagandistische Kampagne.“

Verständnis für die Proteste

Brandt verteidigte die Gesetze auch mit dem Hinweis, es sei Aufgabe eines „Hausvaters“ für den Notfall vorzusorgen und stellte klar: „Die Feuerwehr für ein mögliches Feuer verantwortlich zu machen, ist widersinnig. In staatlichen Maßnahmen, die für den Notfall Vorsorge treffen wollen, ein Mittel und den Weg zu sehen, der das Verhängnis herbei zwingt, ist nicht minder abwegig.“

Gleichzeitig versicherte er: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“

Für die ernsthaft und nicht propagandistisch gemeinten Proteste zeigte der SPD-Vorsitzende Verständnis. Er gehöre zu denen, „die meinen, dass wir uns fragen müssen, was in unserem Staat nicht stimmt, noch nicht stimmt, wenn zuweilen ganze Gruppen von tiefem Misstrauen erfüllt sind, wenn man dem Wort des anderen nicht mehr glaubt, wenn alle allen alles oder viele vielen vieles zutrauen“.

Heinrich Böll wird versöhnt, zumindest ein bisschen

Es sei die „Last der Geschichte“, die eine Ursache für dieses Misstrauen sei. Aber nicht nur: „Wir sollten auch nicht die Frage überhören – sie anderen und uns stellen –, ob in den zurückliegenden Jahren die Grundsätze der Machtkontrolle und der Wahrhaftigkeit in staatlichen Angelegenheit hoch genug gehalten worden sind, um Schule zu machen.“

Eine Breitseite gegen die seit 1949 regierende CDU, insbesondere wohl gegen die langen Adenauer-Jahre. Wer weiter im Protokoll liest erkennt, dass Brandt schon aus der Großen Koalition heraus seinen berühmt gewordenen Satz – „Mehr Demokratie wagen“ – intonierte, den er später als Motto über seine Kanzlerschaft stellte. Das „größte Risiko“ für die Demokratie sei, „dass im entscheidenden Moment Demokraten da sein müssen, die Verantwortung tragen“.

Eine Rede, die weit über das Parlament hinaus als bedeutend wahrgenommen wurde. Notstandsskeptiker Böll jedenfalls schrieb Brandt danach: „Ihre Garantie ist das einzige, was mich nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze noch tröstet.“ Aus seinem Vertrauen zu dem SPD-Vorsitzenden und der Bewunderung für den späteren Kanzler hat der Schriftsteller nie einen Hehl gemacht. Sie wurden Freunde, die beide in Politik und Literatur für „Mehr Demokratie“ stritten.

Die Serie
Im September 1949 trat der Bundestag erstmals zusammen. In einer neuen Serie beleuchten wir Reden aus acht Jahrzehnten. Alle Teile der Serie finden Sie hier.

Autor*in
Norbert Bicher

arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungs­ministeriums.

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2 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 10.08.2024 - 16:24

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Eswurde auch argumentiert, daß diese Gestze zumindest einen Teil der Souveränität der BRD herstellen würden. Aber von der merke ich leider auch seit dem 2+4 Vertrag nichts.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am So., 11.08.2024 - 20:03

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Die SPD braucht jede Hilfe, die sie kriegen kann. Bichler ist ihr Helfer, sich ausstattend mit der Autorität Willy Brandts. Er hilft der SPD damit nicht.

Bichler zeigt an der Notstandsgesetzgebung (1968), wie mit einem kontroversen Regierungsprojekt in einer „aufgeheizten Stimmung“ durch eine „propagandistische Kampagne ... der Eindruck erweckt (wurde), hier habe sich eine Gesellschaft von lauter Bösewichten mit finsteren Absichten zusammengefunden: eine Regierung ... und ein Parlament“. Regierungshandeln hatte zwar „auch harmlosere politische Gemüter nachdenklich gestimmt“, aber die „propagandistische Kampagne“ verdrehte Ursache und Wirkung, so als würde man „die Feuerwehr für ein mögliches Feuer verantwortlich machen: widersinnig“.
Schließlich hat dann aber ein Versprechen, eine Rede und die Persönlichkeit Brands zu einer Versöhnung (mit der Öffentlichkeit und Teilen der eigenen Partei) mit dem alternativlosen Regierungshandeln geführt, „zumindest ein bisschen“.

Es ist unschwer zu erkennen, dass Bichler eine geschichtliche Episode erzählt, die er als Lehrstück für den Ukraine-Krieg und die „propagandistische Kampagne“ auffasst, die dringend und kurzfristig Friedensverhandlungen von unserer Regierung fordert - Brandt würde das so sehen wie er, Bichler.
Im Grunde sagt Bichler damit, Brandt würde auch heute die Regierungsauffassung tragen, durch Fortführung und Eskalation des Kriegs den Krieg so lange fortsetzen, bis sich die Russische Föderation ermattet zurückzieht. Das ist eine kühne Annahme. Es ist wahrscheinlicher, dass Brandt mit dem strategischen Ziel der Nato-Osterweiterung nicht einverstanden gewesen wäre, die für die Russische Föderation- für jeden erkennbar - seit zwei Jahrzehnten ein Kriegsgrund war. Brandt hätte eine einvernehmliche Lösung für die widerstreitenden geostrategischen Vorstellungen von Nato und Russland über den Status der Ukraine und Georgiens gesucht, während die Nato „ mit Moskau über eine andere Form von Sicherheit für ehemalige Sowjetrepubliken wie die Ukraine oder Georgien ins Gespräch zu kommen“ nicht bereit war (H. A. Winkler). Heute wissen wir übrigens, dass auch die Ukraine im März/April 2022 einen für Russland akzeptablen, neutralen Status angeboten hat. Der Westen hat darauf, vorsichtig formuliert, nicht reagiert.

Was hätte Brandt getan? Hätte er sich an „entsprechende mündliche Erklärungen des Bonner Außenministers Hans-Dietrich Genscher und vielfältig ausdeutbare Formulierungen des amerikanischen Außenministers James A. Baker und des Bundeskanzlers Helmut Kohl“ gehalten, auch wenn es eine schriftliche Formulierung der USA auf Verzicht der Nato-Osterweiterung nicht gegeben hat (H. A. Winkler: Die Legende von der versäumten Chance
27. Juni 2022)? Hätte er vielleicht „die Tradition der Bahrschen Außenpolitik ... hochgehalten, ... oder als eine gefährliche weil irrige Basis auch für künftige Außenpolitik“ verworfen („Genossen*innen als Wissenschaftler*innen“ an den SPD-Parteivorstand, 20.3.24)?

Bichlers Text hilft der SPD nicht (- der Ukraine, BRD, Europa, der Welt natürlich auch nicht).