Geschichte

Abstimmung über große Koalition: Im Jahr 1968 war es ganz knapp

Die Situation auf dem Bonner Parteitag erinnert an das Jahr 1968: Damals warben der SPD-Parteivorstand und die Fraktion für eine große Koalition, während viele Mitglieder dagegen waren. Auf einem Parteitag kam es zum Showdown.
von Klaus Wettig · 22. Januar 2018
Willy Brandt
Willy Brandt

Die Bilder vom Sonderparteitag in Bonn ähneln denen vom Nürnberger Parteitag 1968. Damals bat die Parteiführung um die Zustimmung für die zwei Jahre zuvor gebildete große Koalition, während auf einem Parteitag skeptisch darüber diskutiert wurde.

Starke Ablehnung

Im Jahr 1966 hatte der Parteivorstand – nach Zustimmung von Parteirat, Kontrollkommission und Bundestagsfraktion – Verhandlungen mit CDU/CSU für eine mögliche Regierung aufgenommen. Nach 17 Jahren in der Opposition wollte die SPD endlich mitregieren. Mit dem Eintritt in eine von der Union geführte Regierung sollte die Bundesrepublik aus der Rezession herausgeführt werden. Die SPD wollte den Reformstau der letzten Adenauer-Regierung auflösen, vor allem wollte sie beweisen, dass die Sozialdemokratie regierungsfähig ist.

Dieses Vorhaben stieß allerdings auf erheblichen Widerstand in der Partei. Es kam zu Demonstrationen, Protestresolutionen und Austritten. Noch bei der Aufstellung der Kandidaten für die Bundestagswahl 1969 kandidierten Koalitionsgegner gegen Koalitionsbefürworter. Einige Abgeordnete verloren sogar ihre Mandate. Trotz zahlreicher Funktionärskonferenzen, in denen sich die Führung der SPD der Kritik stellte, blieb die Ablehnung erhalten. Ein Sonderparteitag hätte durchaus zu einer Niederlage des Parteivorstandes führen können.

Lange Debatte

Die Kritik entzündete sich damals an grundsätzlichen Fragen. Hinsichtlich einer Koalition mit der Union war oft zu hören: „Mit denen gehen wir nicht zusammen“, was nach den häufig hasserfüllten Angriffen auf die SPD in der Adenauer-Zeit verständlich war. Es gab auch Bedenken, dass ohne SPD die Opposition im Bundestag verschwinden würde, denn der großen Koalition stünde nur noch die FDP mit 49 Abgeordneten gegenüber. Die heftigste Kritik richtete sich jedoch gegen die Rückkehr von Franz-Josef Strauß in ein Ministeramt, der 1962 wegen der Spiegel-Affäre zurücktreten musste. Auch der von CDU und CSU für den Bundeskanzler vorgeschlagene ehemalige Nationalsozialist Kurt-Georg Kiesinger war für viele in der SPD eine Kröte.

Der Parteitag in Nürnberg Mitte März sollte die große Koalition billigen und die von der SPD in der Regierung vertretene Politik unterstützen. Einen entsprechenden Antrag – „Plattform“ genannten – begründete Herbert Wehner, zuvor hatte Willy Brandt in seinem Rechenschaftsbericht um Zustimmung gebeten und dafür den Begriff „Indemnität“ verwandt. Die aus dem Verfassungsrecht stammende Formel sollte die Übertragung der Verantwortung für die eingeschlagene Politik von den Gremien auf die Gesamtpartei begründen. Auch der neue Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt verteidigte die Politik von Parteivorstand und Bundestagsfraktion. Es war eine lange Debatte, wenn auch nicht ganz so leidenschaftlich wie am Sonntag in Bonn.

Breite Mehrheit

Insgesamt gab es neben Brandt, Schmidt und Wehner 40 Redner und Rednerinnen. Aus Zeitgründen wurde die Debatte verkürzt, denn es war bereits nach Mitternacht. Als gegen 0.30 Uhr abgestimmt wurde, stellte die Parteitagspräsidentin Annemarie Renger fest, dass der Antrag 389, der den Eintritt in die große Koalition missbilligte, 143 Stimmen erhalten hätte, gegen ihn hätten 147 Stimmen gestimmt. Eine Nachzählung lehnte das Präsidium ab, nachdem sich Willy Brandt gegen die Neuauszählung ausgesprochen hatte. Zweifel am Ergebnis waren durch mitzählende Journalisten aufgekommen, die eine Mehrheit erkannt haben wollten. In der weiteren Abstimmung fand die „Plattform“ dann eine breite Mehrheit. Um 0.45 Uhr wurde die Sitzung beendet.

Es war nicht sicher, was passiert wäre, wenn der Antrag 389 eine Mehrheit gefunden hätte. Willy Brandt jedenfalls sprach in der Debatte von einer „Vertrauensfrage“. Im Geschichtsbuch ist notiert, dass die damalige große Koalition eine Erfolgsgeschichte der SPD einleitete.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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